Scharfe Kritik

Für viele seiner homosexuellen Zeitgenossen war Wirz' Publikation der hoffnungslose Versuch eines rückwärtsgewandten Artgenossen, eine Brücke zum Christentum zu schlagen. Für viele war völlig klar, dass nicht nur ein Bruch mit dem Christentum den gesunden Homosexuellen auszeichne, sondern die absolute Gleichgültigkeit gegenüber allem, was mit Religion zu tun hat.

Einer der schärfsten Kritiker war Hans Blüher (1888-1955), der 1913 im Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen, Band 13 einen Aufsatz mit dem Titel "Die drei Grundformen der Homosexualität" veröffentlichte.

"Darin setzt er sich auch kritisch mit der Haltung der Kirche auseinander und befindet, dass diese immer nur zur Duldung der Ketzer und freien Denker und auch dies mehr erzwungen als freiwillig bereit sei. Die christliche Ethik sei, man mag es drehen und biegen wie man will, ausschliesslich heteronom und vermöge dadurch das Wesen der Homosexuellen gar nicht zu erfassen. 'Wenn sich nun das Christentum bemüht, in dieser Frage mitzureden, so ist es klar, dass es niemals über den Standpunkt der blossen Toleranz hinauskommen kann. [...] Ich erwähne [...] den Aufsatz von Caspar Wirz [...]. Die ganze Hilflosigkeit dieser alten Gesinnung geht einem da auf, wenn man diese Zeilen liest. Die ganze Lebens- und Auffassungssphäre, die das Christentum vertritt, gerät hier in Kollision mit der Moderne, und zu retten ist hier wirklich nicht mehr viel.' " (Zitat nach Beat Frischknecht)

Oder hatte Wirz dennoch recht?

Ja, er hatte recht, dies vor allem mit seinem Bemühen um eine exakte, objektive und zugleich demütig offene Annäherung und Betrachtung dessen, was er "Gottes Wort" nannte und wie er sich diesem "Wort" annäherte mit der Kenntnis und Erfahrung dessen, was homosexuelle Veranlagung und Liebe ist.

Diese Vorgehensweise macht ihn noch heute zum Pionier. Ein Beispiel:

"Das Neue Testament hat die Päderastie und ihre Abarten verurteilt, wie sie in der damaligen griechischen-römischen Kultur praktiziert wurden. Es sagt nichts über heutige Partnerschaften zwischen erwachsenen Homosexuellen auf der Basis gegenseitiger Anerkennung."1

Allerdings, die weltweite Situation heute gibt beiden, sowohl Wirz als auch Blüher recht. Denn die grosse Mehrheit bilden die "Bibelfesten", die Dogmaverpflichteten und ihren Gemeinschaften und Kirchen "treu Ergebenen". Sie und ihre Gemeinschaften bestätigen die Ansichten von Blüher.

Eine Minderheit aufgeschlossener und meist nicht kirchengebundener Christen begann sich jedoch in den letzten zwei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts zu formieren und öffentlich hör- und sichtbar zu machen. Sie dachten und praktizierten entsprechend der Sicht- und Glaubensweise des Theologen und Menschen Caspar Wirz - ohne ihn zu kennen.

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Ernst Ostertag, Juni 2006

Quellenverweise
1

Zitat von Anton Christen mit Kürzel "ach.", NZZ vom 30. November 2005, Seite 3; Kommentar zu päpstlichen Verlautbarungen über Partnerschaftsgesetze und zur Begründung des Nicht-Zulassens Homosexueller zum Priesteramt.