Theologe aus Zürich

Ein unsteter junger Mann

Johann Caspar Wirz wurde am Nationalfeiertag, dem 1. August 1847 in Zürich geboren. Exakt neun Tage, bevor die erste Eisenbahn der Schweiz von Zürich nach Baden rollte und dampfte: die "Spanischbrötlibahn". Dieses neue Verkehrsmittel sollte Wirz zwei Jahrzehnte später extensiv nutzen.

Drei Monate nach seiner Geburt kam es zum einzigen kurzen Bürgerkrieg der modernen Schweiz, dem Sonderbundskrieg, der mit dem Sieg der Tagsatzungskantone zugleich ein Sieg des Liberalismus gegen die katholisch-konservativen Kräfte und Kantone war und im folgenden Jahr zum neuen Bundesstaat mit einer Verfassung führte, die jene der Vereinigten Staaten von Amerika zum Vorbild hatte.

Diesem freiheitlichen, von kirchlicher Bevormundung gelösten und nach den Prinzipien des Humanismus geprägtem Staat diente Caspar Wirz bei seinen späteren Missionen in Italien, indem er die schweizerischen Archive in Bern mit Materialien zur Geschichte der Eidgenossenschaft belieferte. Und sein theologisches Werk über den Uranier vor Kirche und Schrift entsprang derselben freiheitlichen Haltung und war eine der ersten, wenn nicht die allererste Auseinandersetzung eines Theologen mit der christlichen Überlieferung im Hinblick auf die Frage der Homosexualität als naturgegebene Veranlagung.

Der nach eigenen Worten "in streng protestantischer Luft" erzogene Knabe Caspar besuchte nach der Volksschule das Gymnasium und studierte ab 1868 Theologie in Basel und Berlin, wo er 1873 ordiniert wurde. Dazwischen hielt er sich in Italien und Algier auf. Nach der Ordination machte er sich wieder auf ausgedehnte Reisen durch halb Europa, um dazwischen an diversen Orten im Kanton Zürich zunächst als Verweser, dann als Pfarrer zu amten.

Offenbar war Wirz eher an Forschung als an der Verkündigung des Glaubens interessiert, denn von 1875 bis 1877 besorgte er nebst der Pfarrei die "Herausgabe der Bibliographie der Schweiz". 1877 reiste er nach Istanbul, 1878 war er wieder an Pfarrämtern tätig und von 1879 bis 1882 lebte er in München.

Schliesslich wurde er 1883 im thurgauischen Aadorf zum Pfarrer gewählt. Die Gemeinde war als "schwierig" bekannt.

"Nachdem er vier Jahre lang diesen Thurgauern unerschrocken das VIII. [Sechs Tage sollst du arbeiten] und IX. Gebot [Am siebenten Tage sollst du ruhn und deines Herrn gedenken] vor Augen gehalten, wurden sie seiner überdrüssig und beriefen ihn mit 102 gegen 98 Stimmen ab."

Das war im August 1887. Er erhob Beschwerde und erwähnte zudem noch ausstehende Besoldungen, was beides abgelehnt wurde.

Am 3. September zog Wirz nach München und nahm, quasi als Pfand, die Kirchenlade mit, denn in dieser Truhe lag nach altem Brauch das ganze Kirchenvermögen. Natürlich führte des Pfarrers eigenwilliges Tun zu gerichtlichen Nachspielen, was Wirz vermutlich sehr bewusst eingeplant hatte. Am 15. Oktober konnte die polizeilich zurückgeführte Truhe im Kantonshauptort Frauenfeld geöffnet und der Inhalt als vollständig bestätigt werden und am 10. November erklärte das Bezirksgericht Frauenfeld Caspar Wirz der "unerlaubten Selbsthülfe" für schuldig und verurteilte ihn zu einer Geldbusse von 100 Franken.

Neun Tage zuvor, am 1. November 1887, hatte Wirz, der zur Verhandlung in Frauenfeld nicht erschien, eine sieben Jahre ältere Frau geheiratet, von der er sich jedoch im Dezember 1888 bereits wieder scheiden liess.

Nun gab er den Pfarrberuf auf und zog sich nach München zurück, wo er

"sofort mit der Fertigstellung seines historischen Pfarrerverzeichnisses begann, welches als Etat des Zürcher Ministeriums von der Reformation bis zur Gegenwart [...] 1890 in Zürich erschien [...] und heute [...] unter dem schlichten Kürzel Etat Wirz bekannt"

ist.

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Ernst Ostertag, Juni 2006