Exil

Exil in Italien, letzte Lebensjahre

Jürg Amstein schrieb 1983 in der Zeitschrift hey über Ulrichs:

"Als er immer deutlicher sah, wie wenig Widerhall seine Flugschriften und Broschüren fanden und wie geringe Unterstützung und Förderung ihm von seinen Schicksalsgenossen zuteil wurde, gab Ulrichs das Rennen auf, ergriff den Wanderstab und ging (grösstenteils zu Fuss) über die Alpen nach Italien; dorthin, wo so viele deutsche Homosexuelle vor ihm Zuflucht und Ruhestätte gefunden hatten. 1880 traf er in Neapel ein, verweilte dort über zwei Jahre, fand dann in der frischeren Höhenluft der Abruzzen in L'Aquila eine neue Heimat. 12 Jahre lebte er noch dort [...]. Mit der Homosexuellenfrage beschäftigte er sich kaum noch, widmete vielmehr beinahe seine ganze Zeit der Herausgabe einer kleinen lateinischen Zeitschrift Alaudae (Lerchen), deren klassische Gelehrsamkeit und Diktion ihm im Alter noch manchen Freund und Gönner verschaffte. [...] Der berühmte Sexualforscher Magnus Hirschfeld ist 1909 in Italien den Spuren Ulrichs nachgegangen."

Nun zitierte Amstein - leicht verändert - den ganzen Bericht Hirschfelds über seine Erlebnisse in L'Aquila und beim alten Marchese Dottore Niccolo Persichetti, der in freundschaftlicher Verbindung zum "professore tedesco", Karl Heinrich Ulrichs, gestanden hatte und Hirschfeld viele Details aus dessen letzten zwölf Lebensjahren erzählte. Dabei sei er immer wieder in die Worte ausgebrochen:

"Oh, c'était un homme extraordinaire, très respectable, admirable, mais trop modeste."1

Einen wichtigen Abschnitt, jenen zur Hinterlassenschaft Ulrichs, liess Jürg Amstein aus. Das sei hier nachgeholt, doch zunächst nochmals Amstein:

"Als er am fünften Tage im Spital lag, brachte Persichetti ihm ein Diplom, das ihm die Universität Neapel in Anerkennung seiner lateinischen Zeitschrift 'Alaudae' geschickt hatte. Er war aber schon zu krank, um es selbst lesen zu können. Er lächelte nur zufrieden und starb bald darauf in den Armen Persichettis, der ihn neben seiner Familiengruft beisetzen liess."

Hirschfeld:

"Persichetti hat das Diplom noch jetzt in Verwahrung. Er besitzt auch sämtliche lateinischen Veröffentlichungen Ulrichs', sowie seine Urningsschriften in der Originalausgabe; auch ein Bild aus seinen letzten Jahren zeigte er mir, eine sehr kleine Photographie, die wir mit der Lupe besahen, ein alter graubärtiger Mann mit schwarzem Käppchen im Kreise der Familie Persichetti."

Nochmals Amstein:

"Hirschfeld fügt noch bei: 'Als ich mich am Nachmittag dieses Tages auf dem etwa eine halbe Stunde von L'Aquila malerisch in den Abruzzen gelegenen Campo Santo nach der Grabstätte von Carlo Arrigo Ulrichs erkundigte, sagte mir der alte Friedhofwärter, ich sei in den vierzehn Jahren nach seiner Bestattung der erste, der nach dem fremden Mann frage.' "

Das hat sich allerdings geändert.

"Seit 1988 findet jedes Jahr auf Initiative von Luciano Massimo Consoli3 (Rom) eine Feier an Ulrichs’ Grab statt. [...] Es ist in den letzten Jahren zu einer wahren Pilgerstätte geworden."

So berichte Wolfram Setz in einem (Ge)Denkblatt2 zum 175. Geburtstag von Karl Heinrich Ulrichs.

Nach oben

Ernst Ostertag, September 2006

Weiterführende Links intern

Erfolgreiche Jahre

Quellenverweise
1

Den Bericht aus L'Aquila übernahm Magnus Hirschfeld in sein Werk "Die Homosexualität des Mannes und des Weibes", Handbuch der gesamten Sexualwissenschaft in Einzeldarstellungen, dritter Band, S.965 - 967, das  1914 bei der Verlagsbuchhandlung Louis Marcus, Berlin, erschienen ist. Zuvor hatte er ihn - den Abschnitt über Ulrichs - in Gedichtform bereits im Jahrbuch 1909 veröffentlicht, dies unter dem Titel "Drei deutsche Gräber im Fernen Land".

2

Wolfram Setz, (Ge)Denkblatt zum 175. Geburtstag von Karl Heinrich Ulrichs, Splitter 2, Forum Homosexualität und Geschichte München, 2000.

Anmerkungen
3

Luciano Massimo Consoli (1945-2007) war Begründer und Leiter einiger der wichtigsten italienischen Homosexuellen-Organisationen.