1933-1945

Wille zum Widerstand

… und zum Überleben als freie Nation

Geboren im Januar 1930 war ich (Ernst Ostertag) damals zwar ein sehr junger, aber aufmerksamer Beobachter und Zeitzeuge. Denn ein Kind, das Angst bei seinen Eltern ortet, fühlt sich lebensbedroht und will wissen, warum diese Situation entstanden ist, woher sie kommt und welcher Bösewicht dafür die Verantwortung trägt. Solche Umstände prägen sich unauslöschlich ein; sie haben eine ganze Jugend bestimmt, jeden Tag, und nachts bis in die Träume hinein. (Es war mein Vater, der auf die meisten Fragen Antwort wusste und mir früh das Zeitungslesen beibrachte.)

Im Frühjahr 1940 jagten sich die scheinbar unaufhaltsamen Erfolge der Diktaturen: Am 12. März musste das tapfere Finnland den "Frieden von Moskau" unterzeichnen und grosse Gebiete an den Aggressor, Stalins Sowjetunion, abtreten. Am 9. April wurden Dänemark und Norwegen von Hitler-Deutschland angegriffen und bis zum 10. Juni bezwungen. Am Freitag, 10. Mai wurde die "Westfront" eröffnet. Die neutralen Staaten Niederlande und Belgien wurden in einem "Blitzkrieg" überrollt und bis zum 28. Mai vollständig besetzt. Danach begann die Schlacht um Frankreich. Am 10. Juni eröffnete Mussolini-Italien eine zweite Front an der Mittelmeerküste - und bereits am 22. Juni war Frankreich besiegt und aufgeteilt.

Die Schweiz reagierte mit der zweiten Generalmobilmachung am 11. Mai 1940 und sah sich Ende Juni als isolierte Insel mitten im Kriegsgebiet, umringt von aggressiven Diktaturen. Die Achsenmächte konnten jederzeit die Zufuhr unterbinden. Ohne Einfuhr von amerikanischem Getreide, ohne Kohle und Stahl und so vielen anderen wichtigen Gütern wären Hunger, Arbeitslosigkeit, Elend entstanden. Diese traumatische Situation prägte die gefahrvollste Zeit der neueren Geschichte unseres Landes.

Die schweizerischen "Fröntler" und anderen Anhänger eines "friedlichen Anschlusses ans Neue Deutschland" waren gut organisiert. Und Hitler zählte auf fast alle der rund 100'000 Reichsdeutschen in der Schweiz. Doch der Geist des trotzigen Widerstandes und der Wille zu energischer Gegenwehr war in breitesten Volkskreisen ausgeprägt vorhanden, auch bei Soldaten und Offizieren der Armee wie bei Politikern aller Parteien. Es brauchte jetzt ein deutliches Zeichen von oben: vom Bundesrat und vom General (Henri Guisan). Die Zeit verlangte starke und über die äusserst schwierige Lage hinaussehende Persönlichkeiten.

Mit seiner illusionslosen Rede vom 25. Juni zeichnete der Bundespräsident und neue Aussenminister Marcel Pilet-Golaz (FDP, VD) ein kluges Bild der Lage und der nächsten Zukunft. Die politische Führung hatte die Fakten zu analysieren: Ein neues, aus den Fugen geratenes Europa, "monde disloqué", war entstanden und wuchs weiter. Solange der Krieg andauerte, blieb dieses Europa ein bedrohlicher Zustand, den es zu überleben galt. Dies mit hartem und lange andauerndem Einsatz, nicht für sich, sondern für alle. Ein Gebot auch für die Regierung als "guide sûr et dévoué": Mit sicherem Tritt und der Sache ergeben - dem Überleben als Nation - hatte die Regierung vorauszuschauen und voranzugehen und in diesem Sinne ihre Entscheidungen - "prises d'autorité" - zu treffen.

Die Rede von Pilet-Golaz vermied alles, was den momentanen Siegermächten und triumphierenden Herren der Gesamtsituation missfallen und sie zum Zuziehen der Schlinge um unseren Hals bewegen könnte. Sie war klug. Die Mehrzahl des Volkes verstand sie auch so und schöpfte daraus Hoffnung und Mut. Es ging jetzt und in den folgenden sehr schwierigen Monaten und vielleicht Jahren um Zugeständnisse in vordergründig wichtigen Dingen, um dafür im Kern, der bewaffneten Neutralität, absolut fest zu bleiben - und somit überleben zu können.

Den anderen, ebenso wichtigen Akzent setzte General Guisan einen Monat später am 25. Juli mit seinem Rütli-Rapport. Für die grosse Mehrheit der Schweizer wurde dem unbedingten Willen zum Widerstand ein klares, der beklemmenden Situation entsprechendes Ziel gegeben und im psychologisch richtigen Augenblick neu Stellung bezogen. Das wirkte trotz Preisgabe der Bevölkerungszentren nachvollziehbar: Rückzug der Armee in ein Réduit, eine Alpenfestung, die für jeden Aggressor ein Risiko darstellte und ihm für lange Zeit zerstörte Transitwege durch das Gebirge bescherte. Höchstmögliche Abschreckung, das war sowohl bei der Insel-Situation als auch nach den traumatisierenden Demonstrationen der Überfalls- und Blitzkriegstaktik Hitler-Deutschlands die einzig möglich erscheinende und realistische Antwort mit Aussicht auf ein Überleben als freie Gemeinschaft.

In den folgenden Jahren und Jahrzehnten wurde die Réduit-Strategie im Bewusstsein der Bevölkerung zum konkret verinnerlichten Symbol. Allerdings, jedes Symbol muss später, wenn es seinen Dienst erfüllt hat, relativiert und entlassen werden. Wer es nicht tut, macht sich zu dessen Sklaven. Leider wirkte und wirkt "unser Réduit" in den Köpfen vieler noch lange, zu lange nach.

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Ernst Ostertag, August 2004