Neues Deutschland

Willkür, Kirche und III. Reich

Menschenrecht 10 vom Juni/Juli veröffentlichte einen Artikel von Mamina unter der Überschrift "Homosexualität und - Kirche im III. Reich". Darin nimmt sie u.a. Stellung zu den neuen Sittlichkeitsprozessen:

"Vor genau drei Jahren [eine Anspielung auf den "Röhm-Putsch"], am 30. Juni 1934 hat das heutige Regime durch 'kurzhändige Justiz' sich 71 unbequem gewordener Parteimitglieder entledigt . [...] Heute wird ein Gleiches versucht mit den gross aufgezogenen Sittlichkeitsprozessen gegen den Welt- und Ordensklerus. [...] Die katholische wie die protestantische Bekenntniskirche ist unbequem, deshalb wird zu jedem Mittel gegriffen, um diese zwei noch einzig feststehenden Säulen geistiger Selbständigkeit zum Wanken zu bringen. Da ist die Homosexualität einzelner Geistlicher und Ordensbrüder den Kirchenfeinden ein gefundenes Fressen. [...] Goebbels selbst hat in seiner Weltfunkrede wohl das meiste getan, was einem Sterblichen an Aufbauschung und Verdrehung möglich war. Sprach er doch von der direkten Verseuchung der ganzen Kirche und von tausend und abertausend spez. homosexuellen Verbrechern im geistlichen Kleide. [...] Wir wissen wohl, dass die Einstellung der Geistlichkeit zum Problem 'Homosexualität' für uns keine freundliche ist, hoffentlich aber öffnet gerade diese Sache den Weg zum besseren Verständnis bei manchem derselben."

In diesem Zusammenhang sei auch an den Pastor der evangelischen Gemeinde Berlin-Dahlem erinnert, Martin Niemöller. Als bekennender Christ und führender Kopf der Bekennenden Kirche, welche klar Distanz hielt zu den von den Nazis eingesetzten Kirchenleuten, war er einer der ganz wenigen Deutschen, die Hitler von Angesicht zu Angesicht direkt entgegentraten. Bei einem Treffen 1934 sagte er zu diesem, er, Niemöller, trage bei seinem Handeln weniger Sorge um die Kirche, als um das deutsche Volk, worauf ihn Hitler anfuhr, er solle sich um seine Kirche kümmern

"und überlassen Sie die Sorge um das deutsche Volk gefälligst mir!"

Beim Abschied erklärte ihm Niemöller:

"Herr Reichskanzler, die Sorge um mein deutsches Volk kann mir als Christen niemand abnehmen, auch Sie nicht!"1

Zum deutschen Volk Niemöllers gehörten auch die Homosexuellen Deutschlands, ob der Pastor das so mitmeinte oder nicht. Hitler schickte ihn ins Konzentrationslager und er verbrachte die Zeit von 1937 bis 1945 in Sachsenhausen und Dachau, wo auch viele homosexuelle Häftlinge mit dem rosa Winkel als die Letzten und Untersten zu Tode geschuftet, zu Krüppeln gequält und ermordet wurden. Sie konnten dem Pastor nicht entgangen sein; er musste sie als seine Mitbrüder wahrgenommen haben. Aber er hat sie später nie erwähnt und ist damit mitschuldig geworden am "Totgeschlagen - Totgeschwiegen".

Für Mammina jedenfalls war die Hoffnung auf ein besseres Verständnis möglich und gegeben, als sie dieselbe Situation staatlicher Willkür hervorhob, welcher Kirche wie Homosexuelle gleichermassen wehrlos gegenüberstanden. Mamminas Hoffnung ging nicht in Erfüllung. Im Gegenteil, die Kirchen billigten nach dem Krieg die Beibehaltung der Hitlerparagraphen gegen Homosexuelle in der BRD und jene vor Hitler in der DDR.

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Ernst Ostertag, August 2004

Quellenverweise
1

NZZ, 2. August 2004, Seite 22