Fernes Ziel

Ein Zentrum für Homosexuelle

Unter dem Titel "Das ferne Ziel" fasste Rudolf Rheiner (Karl Meier / Rolf) im März 19411 seine Vision in Worte:

"Der Kampf 'gegen Ächtung und Vorurteil' bleibt einer der wesentlichsten Faktoren in unseren Bestrebungen; er wird - darüber geben wir uns keinen Illusionen hin - noch Jahrzehnte dauern, vielleicht noch ein Jahrhundert, denn dieser 'Kampf' kann ja nicht, ähnlich wie bei politischen Organisationen, massenhaft geschehen. Eine [öffentliche]  'grosszügige Aufklärungspropaganda' [...] würde das Gegenteil bewirken. [...]

Aufhebung falscher Anschauungen ist aber nicht das einzige Ziel. Wir erstreben eine neue Gemeinschaft mit Menschen gleichen Schicksals [...] gleicher Liebesneigung, denen künstlerische Gestaltung dieses Schicksals ein seelisches Bedürfnis ist wie für den Leib das Brot.

Ein kleiner Baustein [dazu] bleibt unsere Zeitschrift. Wir wollen versuchen, sie weiter zu halten und, wenn möglich, auszubauen. Wir möchten sie so gestalten, dass man sie unbedenklich auch dem geistig Anspruchsvollen, der nicht in unseren Kreis gehört, geben kann, denn nur mit der besten Literatur, [...] mit klar und sachlich formulierten Aufsätzen können wir den Verständnisbereiten überzeugen. Diese Zeitschrift könnte aber noch mehr sein: der Platz, wo Schriftsteller unserer Art Stücke aus unveröffentlichten Werken zum ersten Male abdrucken, der Platz, wo lebende Mediziner und Juristen unsere Neigung von ihrem Standpunkt aus beleuchten, 'Pro und Contra' nebeneinander stellen. Eine schöne Bereicherung wäre es auch, wenn wir Werke der Plastik und der Malerei, die männlichen Eros ausstrahlen, reproduzieren könnten; - es gäbe so viele Aufgaben, wenn genügend Mittel vorhanden wären! -

Für den Leserkreis dieser Gemeinschaft wird früher oder später auch eine andere Notwendigkeit entstehen: ein eigener Raum, der ausschliesslich diesem Kreis zugänglich ist. In diesen Raum gehört eine Bibliothek aller einschlägigen Werke der Wissenschaft und der schönen Literatur, gehören einwandfreie Bildersammlungen, gehört auch die Möglichkeit kleiner wechselnder Ausstellungen lebender Künstler. Dieser Raum könnte der Mittelpunkt für alle Abonnenten werden, aber immer nur für diese! Hier könnte jeder ohne Trinkzwang, ohne Eintrittsgeld, ein seltenes Buch lesen, das ihm sonst nicht zugänglich ist, in Kunstmappen blättern, Schach spielen; wir könnten diskutieren, rezitieren, musizieren, von Zeit zu Zeit für ein paar Stunden in der Welt leben, die wir nun einmal brauchen, um innerlich nicht zu verarmen, zu vereinsamen. Dieser Raum könnte für jeden von uns ein Stück Heimat werden.

Das ist und bleibt das ferne, schöne Ziel ... wenn der Krieg einmal zu Ende ist! [...] [Dann] wären wir nicht so prüde, keine Feste zu veranstalten! [...]"

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Ernst Ostertag, August 2004, Januar 2021

Quellenverweise
1

Karl Meier unter dem Pseudonym Rudolf Rheiner: Menschenrecht, Nr. 3/1941