1959

Die Situation

Dem ersten Beitrag von "E.W." setzte die Redaktion 1959 die Ankündigung voran "Uns schreibt eine Lesbierin:"1 

"Nicht unter der Veranlagung leiden wir...

... sondern unter der Verheimlichung! [...] Was jedoch zum eigentlichen Problem wird, ist die Lüge. Das breite Publikum verpönt Homoerotik, ohne darüber im Bilde zu sein. Sie ist anrüchig, weil man sie nicht versteht [...] oder nicht verstehen will. Wo bleibt die folgerichtige Überlegung, dass somit Menschen verachtet werden, ohne eigentliche Schuld, ohne überhaupt irgendwelchen Willen zum Schlechten? [...]

Ich bin weit entfernt davon, es als richtig zu erachten, homosexuelle Veranlagung zu überbetonen. Verweiblichte Männer und vermännlichte Frauen sollten nur im Rahmen des persönlich Unerlässlichen in Erscheinung treten. Dies künstlich zu übertreiben, mag Unsinn sein, hervorgerufen sehr oft durch eine verständnislose Umgebung und daraus resultierendem Trotz. Doch sollten wir andererseits nicht zu Sklaven unseres Geheimnisses gemacht werden. [...]

Es ist weder ein Verdienst, weder eine Strafe noch ein Glück, aus der Art zu schlagen. Der Preis solchen Aussenseitertums wird teuer genug bezahlt. Dennoch leisten wir unseren Tribut im Alltagsleben, denn es sind die Untüchtigen, die Primitiven nicht, welche mit dieser 'Geissel' geschlagen wurden. [...] Aber die ewige Maske macht müde, das ständige Verbergen reibt auf. [...] Wird eine kommende Generation [...] grosszügiger urteilen? Verständnis dürfen wir nicht verlangen, weil andere sich nicht in unsere Lage versetzen können. Aber um den nötigen Takt bitten, das sei gewährt."

Ernst Ostertag, Juni 2006

Quellenverweise
1

Der Kreis, Nr. 3/1959, Seite 21