1955

"Querelle de Brest"

... Pornografie und Sprachkraft

Unter dem Titel "Querelle" erschien 1955 bei Rowohlt die nummerierte und nur auf Bestellung erhältliche beschränkte erste deutsche Ausgabe, hervorragend übersetzt von Ruth Uecker-Lutz. Das Buch steckte in einem Schuber. Beigegeben war eine Schrift mit dem Titel "Jean-Paul Sartre über Jean Genet", verfasst und mit einem Vorwort versehen von Rolf Italiaander. Darin wies er auf Sartres grossen Einsatz für Genet hin und auf den 800 Seiten umfassenden Essay "Saint Genet, comédien et martyre", den Sartre 1952 herausgegeben hatte. Erstmals in deutsche Sprache übersetzt zitierte Italiaander Abschnitte daraus.

Unter der Hand und gegen Unterschrift - "auf eigene Verantwortung erworben" - war "Querelle" auch im KREIS erhältlich und wurde sofort ein Renner. Annonciert war das Buch im Kleinen Blatt 9/1955. 

Wir (Ernst Ostertag und Röbi Rapp) mögen uns lebhaft erinnern, wie hinter halbwegs vorgehaltener Hand oft und eingehend über das Werk diskutiert und einzelne "heisse" Szenen zitiert wurden. Wer Details kannte und nacherzählte, erwarb sich eine Art Nimbus des "Verruchten" und auch den eines Oppositionellen gegenüber der KREIS-Ideologie - oder Illusion? - des "Idealen Homoeroten".

Genet markierte den Anfang einer damals erst erahnten - aber klar erhofften - gesellschaftlichen Befreiung. Für etliche von uns erschien die Übernahme der entwaffnenden Ehrlichkeit dieses Dichters gegenüber sich selbst - auch im ganz Dunkeln - die Voraussetzung der Befreiung zu sein. Denn, auch hier bot Genet das Beispiel, erst das zu sich selber Stehen ermöglichte den Schritt in die Öffentlichkeit, ohne Rücksicht auf Ablehnung oder Ächtung.

Unsere Diskussionen mit dem "Ehrlichsein" drehten sich auch um das, was der Leserbriefschreiber W.F. im Kreis unter dem Titel "Ein entschiedenes Ja!" schrieb1:

"[...] Zweifellos kann es auch als Pornographie gesehen werden. Viele Homosexuelle werden es mit Erektionen lesen. Bei manchem dienen die Bücher zu mehr. Wer das leugnet, spricht falsch oder ist impotent. [...] Diese Texte haben schon da oder dort bisher sorgsam gehütete Hemmungsschranken zu Fall gebracht, zur Betätigung und Bestätigung geführt, was vorher latent und verborgen gehalten war. Es wäre feige, dieses Faktum zu bestreiten."

Zuvor hatte W.F. jedoch die künstlerische Bedeutung des Werks ins Zentrum seiner Zuschrift gestelltt:

"Der Text beweist zur Genüge die urwüchsige Sprachkraft Genets, die Fähigkeit zu dichterischer Phantasie, eine Fertigkeit der Sprachbehandlung, der Kompositionstechnik, eine Fruchtbarkeit an Bildern, die zwar so ziemlich allen geheiligten Regeln der Académie zuwiderläuft, in der kontemporären Literatur Frankreichs, und nicht nur in dieser, aber schlechthin einmalig ist."

Diese Kraft der Dichtung inspirierte Jean Cocteau bereits 1949 zu 28 ungemein starken und hocherotischen Zeichnungen von zumeist nackten Matrosen, die er als Illustrationen zu "Querelle" schuf. Aber erst nach seinem Tod, 1963, sind sie unter seinem vollen Namen erschienen. Eine davon wurde allerdings bereits 1951 im Kreis unter "Dessin de Jean Cocteau" veröffentlicht2.

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Ernst Ostertag, April 2005

Weiterführende Links intern

Rolf Italiaander, Vier deutsche Autoren

Quellenverweise
1

Der Kreis, Nr. 6/1960, S.13)

2

Der Kreis, Nr. 7/1951, Seite 24. Wahrscheinlich Nachdruck aus der bibliophilen Ausgabe von "Querelle de Brest", undatiert, vermutl. 1950, "strictement hors-commerce", Seite 137, gefunden im Nachlass Eugen Laubacher / Charles Welti