1956

Prozess in Feldkirch

… und eine Intervention

Der Wiener Satiriker Karl Kraus (1874-1936) traf voll ins Ziel mit seinem Schreiben an den österreichischen Justizminister, 1907:

"Sonderbare Schwärmer! Die nicht wissen, dass in Österreich nicht die Menschlichkeit Sexualgesetze macht, sondern die Sittlichkeit, [...] nicht der Fortschritt, sondern die Feigheit. [...] Die nicht wissen, dass eher die Furcht, für einen Dieb gehalten zu werden, den Gesetzgeber die Freigebung des Diebstahls wagen lassen wird, als die Furcht, für einen Päderasten gehalten zu werden. [...] Wahrlich, ich sage euch, es wird noch viel Wasser ins Bassin des Centralbades fliessen, ehe sich die Erkenntnis Bahn bricht, dass kein Staatsbürger für die Richtung seiner Nervenwünsche verantwortlich gemacht werden kann!"1

Zum 20. Todestag von Karl Kraus liess Karl Meier / Rolf dieses Zitat in der März-Nummer des Kreis, 1956 erscheinen. Ins selbe Heft setzte er bewusst auch einen flammenden Aufruf unter dem Titel "Hilfe für Österreich"2. Darin orientierte er seine Leser über den "Schandparagraphen 129 Ib" und wies auf die aktuellen Gerichtsverfahren in Feldkirch hin, wo weit über 120 Menschen in

"8 Anklagegruppen zu je rund 15 Personen" in einem "voraussichtlich 14 Tage dauernden Prozess" abgeurteilt werden sollen - unter "weitest möglichem Ausschluss der Öffentlichkeit", die man offenbar scheute oder deren Gefühle man nicht verletzen wollte. Jedoch, "ein ritterlicher Kämpfer [...], selbst nicht Homoerot, [...] will den Strafsenaten eine Denkschrift unterbreiten, die ruhig und sachlich [...] ein klärendes Bild der inneren Zusammenhänge des gleichgeschlechtlichen Eros geben soll. Die Druckkosten hat der KREIS als Hilfe über die Grenze in der Weise übernommen, dass er alle Abonnenten und Leser in Österreich", aber auch alle übrigen, "um Beiträge bittet." Der KREIS werde die dazu nötigen Fr. 1000.- auf jeden Fall überweisen, "denn hier kann vielleicht ein übernationaler Beitrag geleistet werden, der in einem Nachbarland richtungweisend für ein neues, menschlicheres Gesetz wird."

Der Verfasser dieser Schrift war Dr. Wolfgang Benndorf aus Graz.

Ein "Dr. W.H." schilderte das Geschehen in diesem Prozess mit seinen teilweise grotesken Anklagepunkten ausführlich unter dem Titel "Gericht über Feldkirch" und fügte einen "Dankesbrief aus Österreich" hinzu, gezeichnet mit "Ihr ergebener Alwin"3:

"Gerechterweise muss gesagt werden, dass das Gericht ausserordentlich milde, bisher in dieser verständnisvollen Grosszügigkeit in Österreich kaum bekannte Urteile gefällt hat. [...] Dass trotzdem in den weitaus meisten Fällen Schuldsprüche gefällt wurden, hat seinen Grund darin, dass das Gericht eben zur Durchsetzung der gesetzlichen Bestimmungen verpflichtet ist. [...] Vor allem aber ist das erfreuliche Ergebnis ohne Zweifel ein Verdienst des Herrn Hofrates Dr. Benndorf, dessen ebenso kluge wie mutige [...] Interventionen offensichtlich Eindruck gemacht haben. Sein Name und der Inhalt seiner Broschüre wurden denn auch während der Prozesse wiederholt genannt."

Die Aprilnummer des Kreis wies auf die vom KREIS finanzierte, 42 Seiten umfassende Broschüre hin4: "Unvernunft und Unheil im Sexualstrafrecht" von Hofrat Dr. phil. Wolfgang Benndorf, Graz5. Entstanden sei dieses "Dokument grösster menschlicher Humanität" aus Anlass "des bevorstehenden Riesenprozesses gegen 127 gleichgeschlechtliche Angeklagte im Vorarlberg". [...] "Wir aber [...] sollten ohne Ausnahme" das wertvolle Büchlein lesen. "Es kann durch den KREIS zum Preis von Fr. 3.- bezogen werden."

Nach oben

Ernst Ostertag, März 2009

Quellenverweise
1

Der Kreis: Nr. 3/1956, Seite 24

2

Der Kreis: Nr. 3/1956, Seite 22

3

Der Kreis: Nr. 7/1956, Seiten 8 bis 15

4

Der Kreis: Nr. 4/1956, Seite 11

5

Dr. phil. Wolfgang Benndorf, Hofrat: Unvernunft und Unheil im Sexualstrafrecht, Sensen Verlag, Wien