1958

So kam ich ins Register

Wie Ernst Ostertag bedrängt wurde, Schwule zu denunzieren

Das Gespräch oder eher das Hearing auf der Sittenpolizei ging weiter, auch nachdem ich das Protokoll unterschrieben hatte.

Der Chefbeamte, Herr Steffen, erklärte mir nun, sie seien einem Ring von Strichern auf der Spur und er werde mir noch eine Liste von möglicherweise involvierten Personen vorlesen. Ich solle jedes Mal nicken oder Ja sagen, wenn ein Name falle, der mir bekannt sei. Zugleich trat ein weiterer Beamter ins Zimmer, der sich neben Steffen setzte und mich fixierte. Nun war mir klar, was gespielt wurde. Ich beschloss, ruhig zu bleiben und mich völlig unwissend zu geben.

Hinter den meisten der langsam heruntergelesenen Namen fand sich keine mir bekannte Person. Aber es gab einige, die ich kannte, sogar gut kannte, was mich enorm erstaunte, Freier natürlich, sofern die ganze Geschichte überhaupt stimmte. Ich blieb, die Augen auf Steffen gerichtet, gespannt aufmerksamer Zuhörer und sagte nur mal: nein, nein.

Als wir wieder nur zu zweit waren, fuhr Steffen in kollegialem Ton fort, über dies und das zu plaudern, als sässen wir in einem Kaffeehaus. Dann schaute er auf die Uhr und stand auf mit der beiläufigen Frage, ob denn mein "fester Freund und Partner", von dem ich dummerweise erzählt hatte, kommen und mich hier abholen würde, wenn ich ihn darum bäte. Dazu reichte er mir das Telefon. Röbi Rapp erschien auch so rasch es ihm möglich war und Steffen erklärte, denn so wolle es die Vorschrift hier, er müsse seine Personalien mündlich angeben, er sehe ja, dass er nichts davon aufschreibe. Dann entliess er uns. Dass ein Tonband lief oder Steffen sich danach Notizen machte, das sollte uns erst drei Jahre später schmerzlich bewusst werden.

Meine Beamtengläubigkeit erhielt aber lange vorher schon gewaltige Risse. Denn nur wenige Wochen nach dieser unfreiwilligen Unterredung meldete mir ein Kollege, der Präsident unserer Schulbehörde habe sich dahin geäussert, wenn er früher gewusst hätte, dass Ostertag homosexuell sei, hätte er diesen Lehrer niemals zur Wahl vorgeschlagen. Jetzt sei es leider zu spät. Mir war sofort klar, woher diese Information gekommen sein musste, zumal ich von Kameraden im KREIS erfuhr, dass sie ähnliche Überfälle im frühen Morgen erlebt hatten, auch begründet mit "anonymen Briefen" - und alles war ähnlich abgelaufen. Also ein perfider Trick, um an Namen fürs Homo-Register zu gelangen.

Wollte ich meine berufliche Existenz retten, gab es nur ein Vorgehen: Ich ging direkt zum Präsidenten der Schulbehörde und erklärte, ich hätte das und das vernommen, ob denn ernsthafte fachliche Gründe gegen mich vorlägen. Er lief rot an, entschuldigte sich und wir führten schliesslich ein langes, offenes Gespräch. Ich war damals Leiter eines grösseren Schulhauses und hatte von diesem Tag an bei allen Vorschlägen und Anträgen an die Behörde die uneingeschränkte Zustimmung und Unterstützung durch den Präsidenten.

Das Vorgehen der Sittenpolizei stand in eklatantem Widerspruch zu den beruhigenden Ausführungen, die ein Vertreter derselben Sittenpolizei anlässlich eines Vortrages des Rechtsvertreters des KREIS, Dr. Erich Krafft, am 24. Mai 1952 gegenüber den anwesenden Abonnenten gemacht hatte:1

"Auf keinen Fall werden an Zivilpersonen, seien es Arbeitgeber, Verwandte, Zimmervermieterinnen usw. Mitteilungen bezüglich einer homosexuellen Veranlagung weitergegeben."

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Ernst Ostertag, September 2005

Quellenverweise
1

Karl Meier, "Rolf", Der Kreis, Nr. 6/1952, Seite 7, Zusammenfassung des Vortrages