Reaktion im Kreis

Wo ist die Presse, die es wagt, positiv über Freundesliebe zu berichten?

Die Polizei gelangte sehr rasch an den KREIS und bat um Mithilfe bei der Fahndung nach Oboussiers Mörder: Allfällige Zeugen sollten sich melden. Da aber niemand von uns das Opfer näher kannte, blieb der Appell unbeantwortet.

Natürlich gab es in der Presse sowohl seriöse Berichte als auch gefährliche Unterstellungen. Der KREIS beobachtete genau und Karl Meier / Rolf kommentierte ein erstes Mal bereits im Juli1 unter dem Titel "Der tiefe Fall" mit dem Mottowort von Novalis "Wer kann sagen, dass er das Blut versteht?":

"[...] Wurde zuerst auch behutsam nach den eigentlichen Hintergründen geforscht, so liess sich eben doch bald - im Dienst einer raschen Aufklärung - die Tatsache nicht mehr verschweigen, dass der Ermordete in der Neigung zum eigenen Geschlecht schicksalhaft gebunden gewesen war. So korrekt hatte sich eigentlich nur der Polizeiberichterstatter der TAT, Zürich, über die äusserst schwierige Fahndung verlauten lassen. Andere Tageszeitungen konnten sich nicht enthalten, die 'homosexuelle Veranlagung' des Getöteten in Fettdruck hervorzuheben und ein sehr christliches Blatt betonte ganz besonders die 'krankhafte' und 'abwegige' Leidenschaft und das 'Laster', das dem sensiblen Künstler zum Fallstrick geworden sei.

Wenn wir in einer Pressenotiz lesen, dass 'falsche Scham und unangebrachte Schonung die Leute schweigen lassen, die selbst gefährdet sind', so müssen wir dieses Bedauern, das fast einer Anschuldigung gleichkommt, an die Tagespresse zurückweisen, die bis heute zum allergrössten Teil die Tatsache der homoerotischen Beziehung immer nur als Laster und krankhafte Verirrung hingestellt hat. Es wird eben keiner [...] mit seinen eventuellen Beobachtungen auch seinen Namen preisgeben wollen.

[...] Mir berichtete ein Kamerad aus einem grossen Unternehmen in Zürich, dass sein Chef nach Bekanntwerden der Tat vor einer grösseren Anzahl seiner Angestellten geäussert habe: 'Schade, dass es nur einen und nicht Hundert dieser warmen Brüder erwischt hat!' Ein anderer hörte im Tram die Äusserung: 'So - hät's wieder e so en schwule Söichaib putzt!' Solange diese Einstellung sich als 'Volksstimme' äussert und von Leitern von Unternehmungen als Massstab bei einem Mord genommen wird, darf die Öffentlichkeit sich nicht wundern, wenn die Menschen dieser Kreise lieber schweigen als durch ihr Reden den guten Namen und eventuell sogar die Stellung zu verlieren.

Die Bevölkerung erfährt zum soundsovielten Male von den Schattenseiten mann-männlicher Neigung, und die Presse stürzt sich darauf als eine willkommene Sensation. Wo aber ist die Presse, die es wagt, von einer positiv sich auswirkenden Freundesliebe zu berichten, 'ohne falsche Scham'?"

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Ernst Ostertag, September 2005

Quellenverweise
1

Der Kreis, Nr. 7/1957, Seite 10