1969

Leserbriefe

... Protest

Diese Art der Berichterstattung löste eine Flut von Leserbriefen aus, zustimmende wie negative. Immerhin hatte die TAT den Mut, auch die negativen zu publizieren. Sie zeugen davon, dass sich langsam etwas veränderte, indem nebst Aussenstehenden auch Betroffene sich zu äussern getrauten - dies im Jahr des Stonewall-Aufstandes in der New Yorker Christopher Street:1

"[...] Nicht der Mörder, der Ermordete ist schuldig. [...] Die gleichen Praktiken unter Heterosexuellen sind 'normal', aber die beiden Strichjungen waren natürlich 'vom abartigen Tun des Homosexuellen derart angeekelt'. [...]

Wenn sich der Homosexuelle nicht mehr durch den bürgerlichen Ostrazismus2 gezwungen für sein Tun verstecken müsste, dann wären auch die Gründe für Mord, Erpressung und Strichjungentum erledigt.

Das zu sagen, ja, da haben Sie, sehr geehrter Herr Redaktor, die Gelegenheit verpasst und es vorgezogen, mit den Wölfen zu heulen [...] statt für ein besseres Verständnis für eine Minorität, die man würdiger in die Bevölkerung einordnen könnte, zu kämpfen."

Eben einer von jenen

"[...] Haben Sie schon mal überlegt, wie viele Ihrer Bekannten und Mitmenschen homosexuell sein könnten? Vielleicht sind es sogar die Menschen, die Sie bewundern, oder ein Mitarbeiter, der nicht unbedingt mit hoher Stimme sprechen und mit den Hüften wackeln muss. [...] Vielleicht überlegen Sie das nächste Mal auch etwas, wenn Sie das schreckliche Wort 'die Schwulen' hören."

W.M., Zürich

"[...] Das Phänomen der Homosexualität [...] kann nicht einer Lösung näher gebracht werden, indem von faschistoid anmutenden Prämissen wie 'gesundes Volksempfinden', 'natürlicher Ekel' u.a. ausgegangen wird, um uns Bürger auf höchst emotionale Art und Weise gegen solche 'Schwule' aufzuhetzen. [...]

Dass es sehr schwierig ist, Vorurteile abzuschütteln und ohne emotionelle Hetzerei Probleme aufzuzeigen, weiss ich. Auch die Auflagen der Zeitungen werden nicht grösser sein, wenn darin keine Sündenböcke aufgestellt werden, auf die man mit Fingern zeigen kann in der beruhigenden Gewissheit: Ich bin besser. [...] Sind wir wirklich besser?"

R.R.F., Zürich

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Ernst Ostertag, November 2005

Quellenverweise
1

TAT, 4. Oktober 1969

Anmerkungen
2

athenisches "Scherbengericht"; Scherbe = Ostrakon, das einen Bürger verbannen konnte