Kastration

... bis in die 70er Jahre des 20. Jahrhunderts

Das Regime des seelischen Quälens und der medizinischen Verstümmelung hielt sich erstaunlich lange in der Praxis und erschreckend zäh in den Köpfen: bis in die 70er Jahre des 20. Jahrhunderts!

Erst im 21. Jahrhundert wurde damit begonnen, dieses Kapitel der Fehldiagnosen und Fehlleistungen historisch aufzuarbeiten. Christoph Schlatter hat sich unter anderem in seiner Dissertation 2002 auch darum bemüht. Sie trägt den Titel

"Merkwürdigerweise bekam ich Neigung zu Burschen. Selbstbilder und Fremdbilder homosexueller Männer in Schaffhausen 1867 bis 1970".1

Daraus zwei Abschnitte:

"Für den Kanton Schaffhausen lassen sich [...] fünf Kastrationen nachweisen, die mit Homosexualität in direktem oder - in einem Fall - in indirektem Zusammenhang stehen, wobei vier dieser Operationen mit Sicherheit im Kantonsspital Schaffhausen vollzogen wurden.

Sichtbar werden weiter vier ausserkantonale Kastrationen, die [...] in Basel, Bülach (ZH), Solothurn und Zug im Zusammenhang mit homosexuellen Handlungen vollzogen wurden. [...]

Die nachgewiesenen Kastrationen fallen in die Zeit zwischen 1934 und 1961 mit Schwerpunkt in den 40er und 50er Jahren [...] und betrafen Männer [...] die im Zeitpunkt des Eingriffs zwischen 25 und 56 Jahre alt waren."

"Die Betrachtung der Kastrationsfälle zeigt auch, dass es den sanktionierenden Instanzen oft gelang, den Handlungsspielraum für die Betroffenen dermassen einzuengen, dass manch einem die Operation als die weniger schlimme der Möglichkeiten erschien. [...]

Wie die 'Tatsache' der schweren Schädigung Jugendlicher durch ihre Involvierung in sexuelle Handlungen mit erwachsenen Männern kaum je hinterfragt wurde, nahm man auch die positiven Wirkungen der Kastration lange Zeit als gegeben hin. [...] Während allerdings die Psychiatrie im Verlauf der 1960er Jahre daran ging, die Kastration aus dem Katalog der nützlichen Behandlungsmethoden von Homosexualität zu streichen, galt dieser Eingriff ausserhalb der Fachwelt noch lange als tauglich und wurde [...] von Strafverteidigern nur zu oft als Sühne regelrecht offeriert. [...]

Die Schaffhauser - und vermutlich auch die schweizerische - Kastrationspraxis ging in dem Punkt, dass häufig die Freiheit nur zum Preis der 'freiwilligen' Entmannung erhältlich war, durchaus parallel zu derjenigen im nationalsozialistischen Deutschland. Zweifellos machte es aber einen Unterschied, ob man, so man sich weigerte, in ein nationalsozialistisches Konzentrationslager verschleppt oder in eine schweizerische psychiatrische Anstalt eingewiesen wurde. [...] Eine grosse Ähnlichkeit besteht jedoch darin, dass sich sowohl in Deutschland als auch in der Schweiz die kastrationsbefürwortenden Stimmen noch lange Zeit durchzusetzen vermochten, ohne dass sie ihre angeblichen Erfolge zu belegen hatten. [...]

Es ging oft darum, mit den Verstümmelungen arbeitsscheue, rebellische oder sonstwie desintegrierte Elemente ruhig zu stellen und (wieder) zu 'brauchbaren' Gliedern der Gesellschaft zu machen."

Die Zeitschrift Club68 berichtete 1970 von einem besonders tragischen Fall unter dem Titel

"Homosexueller durch Kastration teilgelähmt und geistesgestört"

und endete mit einem Appell an Juristen, sich in diesem Fall einzusetzen für Schadenersatzansprüche wegen schwerer Körperverletzung und generell für die Herabsetzung des Schutzalters, wie es in den Niederlanden geschehen sei.2

Die Zeitschrift hey zitierte 1975 die "Tragödie eines Kastrierten" aus dem Züri-Leu:3

"Ein Verbrecher war er nicht. Aber er mochte halt 'Buben mit Hösli'. [...] Die unausbleibliche Folge: Verurteilungen am laufenden Band. Bis er 43 Jahre alt war. Dann ereignete sich das Drama, das sein Leben zerstörte. [...] Man setzte ihm das Messer auf die Brust: Entweder Kastration oder Versenkung auf Lebenszeiten. Man hatte auch ein Zückerli parat: 'Ein halbes Jahr nach der Operation kommst du raus und bleibst ein freier Mann.' [...] Er willigte in den Eingriff ein.

Heute, rund zwei Jahre später, ist er ein Wrack. Körperlich und geistig. [...] Er mag nicht mehr: sechs Mal versuchte er sich mit Tabletten umzubringen. Man hat ihn immer wieder zurückgeholt. [...]

'Jedem, der vor die gleiche Wahl gestellt wird, rate ich eindringlich, nie in eine Kastration einzuwilligen. Lieber lebenslänglich Kiste als dieses Hundeleben.' [...] Trotz dem damaligen Kuhhandel [...] hat er die Freiheit nicht gewonnen. Man wird sich diesen lästigen, lebensverdrossenen Fall von Klinik zu Klinik, von Anstalt zu Anstalt weiterreichen. [...]"

Im nächsten Heft, hey erschien ein Leserbrief von einem 27-jährigen, der 1969, 21-jährig, ebenfalls kastriert wurde und positiv über seine Lage nach dem Eingriff berichtete - ausser Gewichtsproblemen, da er im ersten Jahr 40kg zugenommen habe, es jetzt aber mit festem Willen bei der Hälfte davon halten könne.4

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Ernst Ostertag, November 2005

Quellenverweise
1

Christoph Schlatter, "Merkwürdigerweise bekam ich Neigung zu Burschen", Selbstbilder und Fremdbilder homosexueller Männer in Schaffhausen 1867 bis 1970, Dissertation, 2002. Seiten 160, 173/74

2

Club68, Nr. 7/1970, Seite 8

3

hey, Nr. 3/1975, Seite 15. Zitat "Tragödie eines Kastrierten" aus dem Züri-Leu, 1. Januar 1975

4

hey, Nr. 4/1975, Seite 7