1961

Neue Grossrazzia

... gefährliche Dynamik

Die Ermordung Heinrich Gählers am 3. Dezember 1961 gab Anlass zu erneutem Durchgreifen bei Strichjungen und Homosexuellen. Dieser Polizei-Einsatz erfolgte jedoch so unmittelbar auf die Mordtat, dass ein detaillierter Plan für gezielte Verfolgungen bereit zu sein schien. Es brauchte offensichtlich nur noch einen "spektakulären" Grund, um loszuschlagen. Der Tages-Anzeiger vom 5. Dezember setzte den Titel "Grossrazzia im Milieu" und meldete unter anderem:

"Zwischen 22.45 und 01.00 Uhr führten Stadt- und Kantonspolizei gemeinsam in neun als Treffpunkte Homosexueller bekannten Lokalen und auf acht bekannten Strichplätzen für Homosexuelle eine gross angelegte, gezielte Fahndungsaktion nach verdächtigen Strichjungen und anderen Elementen durch."

In der TAT vom 6. Dezember war unter anderem zusätzlich zu lesen:

"Die gross angelegte Razzia im 'Barfüsser' und anderen Lokalen, die von rund 200 Detektiven und Uniformpolizisten [...] durchgeführt wurde, ergab in der Fahndung bisher keinen Erfolg. Immerhin wurden gegen 150 Strichjungen [...] zur Hauptwache gebracht und dort überprüft. [...]

Die Razzia, die im Niederdorf zu einigem Staunen führte, wurde durch Bezirksanwalt Dr. Frick, Adjunkt Dr. Hubatka von der Stadtpolizei, Dr. Grob von der Kantonspolizei und Kriminalkommissär Dr. Stotz geleitet."

Am 8. Dezember brachte die TAT einen Bericht zum "Ergebnis der Razzia":

"Nach den Ausführungen von Polizeiinspektor Dr. Bertschi und Adjunkt Dr. Hubatka, Chef der städtischen Kriminalpolizei, wurden alle [...] 168 Festgenommenen [...] überprüft. Insgesamt nahmen sechs Polizeioffiziere und 252 Detektive und Uniformpolizisten an der Aktion teil, die in drei Unteraktionen aufgeteilt wurde, nämlich in eine Aktion gegen die bekannten Strichjungen-Lokale, in eine solche gegen die Strichplätze und schliesslich wurde auch noch der 'Place Pigalle' an der Marktgasse gesäubert, nachdem dort bekanntlich jeden Abend einige Dutzend Strichjungen herumstehen. [...]

Unter den 55 Ausländern waren zehn Minderjährige im Alter zwischen 18 und 19 Jahren. Bei den Schweizern befanden sich 33 Minderjährige im Alter von 16-19 Jahre. Rund 80 Prozent der Eingebrachten waren bei der Polizei bereits als Strichjungen oder HS registriert. [...]

Insgesamt befragte die Polizei 288 Männer, doch wurden nur 168 mit 18 Polizeifahrzeugen und in 34 Transporten auf die Hauptwache verbracht, da sich die restlichen ordnungsgemäss ausweisen konnten und auch nicht verdächtig waren. Die Befragung auf der Hauptwache erfolgte auf Grund eines vorbereiteten Frageschemas. Diese Akten werden nun weiter verarbeitet und die Angaben der Verdächtigen überprüft."

80 Prozent der Eingebrachten, Stricher und gewöhnliche Homosexuelle, waren bereits registriert. Für die Zeitung schien dies kommentarlos normal zu sein. Niemand dachte daran, diese skandalöse Zahl zu hinterfragen.

Die obigen Berichte sind so ziemlich identisch mit jenen der vorausgegangenen Razzien. Es war Routine entstanden. Und das Gefährliche daran: Es hatte sich eine Eigendynamik entwickelt. Einmal Razzia, immer wieder Razzien. Einmal Einträge in (diverse?) Homoregister, immer mehr und noch mehr solcher Einträge.

Wo blieben Besinnung, gesunde Skepsis und Vernunft, die sich nach Rechtsgrundlagen umsieht und fragt, wofür das alles nützlich sein soll?

Es war  erschreckend schnell gegangen, bis alle - Medien, Polizeiorgane und Verfolgte - gleichermassen Opfer einer einmal losgetretenen, fatalen Dynamik geworden waren.

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Ernst Ostertag, November 2005