CSD 1983, Sargversenkung

Tod der "Institution Familie"

Der CSD (Christopher Street Day) vom 25. Juni 1983 in Luzern war in mancher Hinsicht denkwürdig:

"Pietätlose Aktion der Schwulen" ereiferte sich das Luzerner Tagblatt am Montag danach.

Richtig, man war radikal geworden, nicht alle, aber viele. Und fest in der Erinnerung verankert blieb vor allem eine Aktion am Ende dieser "Nationalen Schwulen und Lesbendemo", beim Picknick draussen auf dem Inseli im Vierwaldstättersee: In einem grossen Sarg, zuvor im Umzug mitgeführt, gab es für die "Institution Familie" eine echte Seebestattung - samt fleissig ins Publikum gestreuter Todesanzeigen:

"Zutiefst bewegt haben wir die überaus freudige Pflicht, Ihnen mitzuteilen, dass nach jahrhunderte langen Kämpfen

die patriarchalische Institution FAMILIE

mitsamt dem Zwang zur Heterosexualität, trotz verzweifelter Wiederbelebungsversuche durch Männerherrschaft und Bürgertum endlich von uns gegangen ist.

Die Beisetzungsfeierlichkeiten finden heute in den blauen Wogen am Seeufer statt. Mensch ist herzlichst dazu eingeladen."

Markus Gantner schilderte das Geschehen im hey vom September 1983:1

"Vater, Mutter, Sohn und Tochter stiegen leibhaftig in den nun auf dem See schwimmenden Sarg, führten vor dem zahlreichen Publikum eine kleine Ehrenrunde aus und wurden dann symbolisch ertränkt. Kurz darauf entstiegen sie, wiedergeboren als neue Menschen mit neuen Beziehungsformen, den kalten Fluten. 'Die Institution Familie ist tot! Aus Kind, Frau, Mann wurden MENSCHEN', so hiess es auf dem Transparent im Umzug, das dem Sarg hinterher getragen wurde."

Den befreiungspolitischen Text dazu lieferte ein Editorial im anderschume aktuell vom Juni 1983 unter dem Titel "Autoritäre Familie als Keimzelle des Staates?":

"[...] Es herrschen eine rückwärtsgewandte nostalgische Welle [...] und konservativ-reaktionäre Ideologien, die wie vor zwanzig, dreissig Jahren ihre einzige Hoffnung auf blindes Wirtschaftswachstum und Abbau der sozialen Errungenschaften setzen. Da wundert es nicht, wenn der Rückgriff auf die hochgelobte Institution Familie erfolgt.

Der im Auftrag des Bundesrates erstellte Familienbericht soll offensichtlich eine Institution restaurieren helfen, an deren Fundament und Betonmauern sich massive Risse zeigen. So schwierig diese Restaurierung auch sein wird; die herrschenden Gruppen in unserer Gesellschaft werden keine Anstrengung scheuen, ihre heissgeliebte Familie wieder herzustellen. Warum sie so sehr daran hängen, ist erklärbar: Der Vater (Patriarch) und, ihm unterworfen, die Frau und die Kinder, lernen in dieser autoritären Familienstruktur nicht nur, dass Gott im Himmel (sprich oben) und die Menschen auf der Erde (sprich unten) sitzen, sondern vor allem, dass auch - wie der Vater in der Familie - der Boss im Betrieb oben, und - wie die Frauen und Kinder in der Familie - die Arbeiterinnen/Arbeiter in den Betrieben unten sitzen. In einer solchen Familie wird mit anderen Worten jenes autoritätsgläubige, sich unterwerfende (masochistische) 'Individuum' gezüchtet, das zwar einerseits in den autoritär organisierten gesellschaftlichen Institutionen wie Familie, Schule, Militär, Kirche usw. funktionieren muss, andererseits aber die demokratischen Anforderungen in staatlichen Bereichen (ohne es je gelernt zu haben!) in selbstbestimmender Weise erfüllen soll. [...]"

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Ernst Ostertag, Juni 2007

Quellenverweise
1

Markus Gantner, hey, Nr. 9/1983, Seite 6 und 7