1972

Der Film erregt weiter

Öffentliche Aufführung, vielfältige Diskussion

Im Theater am Neumarkt, dort, wo der KREIS von 1948 bis 1960 sein Lokal hatte, war auf den 23. Juni 1972 um 20 Uhr eine weitere, jedoch diesmal öffentlich angekündigte Vorführung des Films von Rosa von Praunheim angesetzt. Es kamen so viele Leute, dass um 23 Uhr eine Wiederholung stattfinden musste. Der Tages-Anzeiger hatte am 21. Juni unter dem Titel "Diskussion mit Homosexuellen" darauf hingewiesen:

"Auf die Vorführung [...] folgt eine Diskussion, zu der die Homosexuellen Arbeitsgruppen nicht nur ihre Mitglieder und direkt Interessierte, sondern jedermann einladen. 'Raus aus den Toiletten4, rein in die Strassen': diesen von amerikanischen Homosexuellen verfassten Leitspruch haben sich die HAZ zu Eigen gemacht. Vorführung und Diskussion von Rosa von Praunheims Film sind dazu der erste Versuch."

Die anschliessende Diskussion zeigte vor allem Betroffenheit in vielen Schattierungen von Ablehnung (auch als technisch schlechtes Machwerk mit extrem einseitig geführten Figuren) über Infragestellung (was soll’s? so sind wir gar nicht, das schadet uns!) bis zu echter Einsicht (die gezeigten Extreme wirken bewusst so aufrüttelnd, damit wir aktiv werden, für uns!). Im HAZinfo vom August sind alle Voten vollumfänglich veröffentlicht worden samt einem Kommentar,

"damit nun das Aufgegriffene nicht in Vergessenheit und Passivität gerate, sondern weiterhin in seinem ganzen Umfang zu konstruktiven Auseinandersetzungen anrege."1

Der Tages-Anzeiger (TA) brachte eine Kritik des Films unter dem Titel "Sollen Homophile Toleranz erkämpfen?"2 Verfasser war Jürg H. Meyer. Er schloss mit den Worten:

"Veranstalter des Abends waren die HAZ. Diese - sie sind nicht repräsentativ für Zürichs Homophile allgemein! - haben sich dem Kampf gegen die herrschende Moral verschrieben und suchen 'auf der Grundlage eines neuen Selbstverständnisses eine Theorie der Befreiung der Homosexualität zu entwickeln'. Noch scheint es freilich an konkreten Vorstellungen zur Schaffung einer solchen Theorie zu fehlen, doch sind sich die HAZ in einem einig: Der Kampf gegen die herrschende Moral, meinen sie, sei letztlich ein Kampf gegen die Herrschenden und damit ein politischer Kampf.

Politischer Kampf bedingt politische Kampfmethoden. Gerade diese aber scheinen uns im vorliegenden Fall dem eigentlich angestrebten Ziel der Homophilen mehr zu schaden als zu nützen. Denn allenfalls erkämpfte Toleranz kann nicht das ersetzen, woran dieser Minderheit ungleich mehr gelegen sein muss: Verständnisvolle Anerkennung durch eine Mehrheit, die diesbezüglich von Natur aus grosse Einfühlungsschwierigkeiten mitbringt.

Verständnis und Anerkennung lassen sich nur durch analytische Durchleuchtung unserer sozialen Struktur sowie durch klare und geduldige Information über die psychischen und physischen Ursachen der Homosexualität erringen. Dass solche Information Not tut und ein entsprechendes Bedürfnis auch vorhanden ist, schien uns aus der dem Film folgenden Diskussion klar hervorzugehen."

Dieser Bericht erschien den HAZ-Kämpfern einseitig und in überholten Denkmustern verhaftet. Also schrieb Martin Jäggi von der Gruppe S+G (Sexualität und Gesellschaft) eine Entgegnung und Richtigstellung, die jedoch vom TA nicht angenommen und auch nicht veröffentlicht wurde. Daher liess ihn Martin im HAZinfo als zusätzlichen Diskussionsbeitrag erscheinen:3

"[...] Der nette, saubere und adrette junge Mann von nebenan, der aber leider homophil ist und treu mit seinem ebenso netten, sauberen und adretten jungen Freund ein eheähnliches Verhältnis führt, bleibt für viele Schwule ein schöner Traum, dem sie umso eifriger nachjagen, je mehr sie laufend gezwungen sind, ihren sexuellen Bedürfnissen asozial und chaotisch im sexuellen Untergrund nachzugehen.

Der heterosexuellen Öffentlichkeit, die uns mit ihrer Zwangsmoral erst in den Untergrund zwingt, wäre nichts lieber, als dass alle Schwulen diesem Traum entsprechen würden. [...]

Nur wenn man Homosexuellen hilft, die Fragwürdigkeit und Irrationalität der geltenden Normen und Gesetze zu begreifen, hilft man ihnen, sich nicht selber als fragwürdig und irrational zu begreifen. [...]

Die HAZ hätten sich dem politischen Kampf verschrieben [...] meint Meyer. Lauert dahinter das Schreckgespenst einer linksextremen und zu allem noch schwulen Terrororganisation? [...]

Um sich bildenden Gerüchten und Verdächtigungen über die HAZ und unsere Arbeit vorzubeugen, laden wir alle Interessierten ein, zu uns zu kommen und mit uns zu diskutieren. Unser Club ist jeden Mittwoch ab 21 Uhr [...] geöffnet. Eintritt steht jedermann offen."

Nach oben

Ernst Ostertag, Juli 2006

Quellenverweise
1

HAZinfo Nr. 2, August 1972, S.13-21

2

Jürg H. Meyer, Tages-Anzeiger, 27. Juni 1972, "Sollen Homophile Toleranz erkämpfen?"

3

HAZinfo, Nr. 2, August 1972, Seiten 7 bis 9

Anmerkungen
4

Diese den Doppelsinn des engl. Wortes "closet" ignorierende Übersetzung wurde damals von den Aktivisten im deutschsprachigen Raum demonstrativ verwendet. "Out of the closets!" heisst auch "Raus aus den Verstecken!"