1974

Reaktion der HAZ

Rasch und bissig

Die Reaktion der HAZ erfolgte sofort, am 8. März. Sie war im Namen des Vorstandes von Heini Jung und Tobias Pritzker verfasst und richtete sich sowohl an Boldern als auch an die Paulus-Akademie:1

"Mit grossem Befremden haben wir Einleitungstext und Programm zur zweiten Tagung [...] gelesen. Mit Befremden deshalb, weil Sie über die Köpfe unserer Teilnehmer an der Vorbereitung hinweg einen Leitsatz und ein Programm [...] aufgestellt haben, das den Grundinteressen aller Homosexuellen - wir können natürlich nicht auch für die SOH sprechen - ins Gesicht schlägt. Wieder einmal kommt es dazu, dass kirchliche Kreise in christlicher Selbstgefälligkeit ÜBER andere zu Rat sitzen, über Fragen von Schuld und Unschuld, Krankheit und Heilswürdigkeit von Aussenseitern diskutieren, anstatt zeitnah und problembezogen mit den Betroffenen zusammen Auswege aus einer Lage zu suchen, an der u.a. die christlichen Kirchen nicht unschuldig sind.

Es ist uns völlig unklar, wie Sie auf die nach der ersten Tagung widersinnige Idee gekommen sind, wieder nur als kirchliche Organisationen einladen und sprechen zu wollen, ohne die Organisationen der Homosexuellen, die doch wohl für die Betroffenen am besten sprechen könnten, zu Worte kommen zu lassen.

Stattdessen setzen Sie die Tonbildschau [...] an den Anfang der Tagung. Das, nachdem Sie sich selber über den zweifelhaften Wert des Machwerks kritisch geäussert haben. Sie lassen noch einmal die versagensreiche Geschichte der Papiere zur Sexualität für die Synode 72 [...] abrollen, Papiere, von denen auch Sie wissen, wie verfehlt und im Grunde genommen verlogen sie sind.

In unserer Sicht geht das Programm in diesem Sinne weiter. [...]

Als Beilage senden wir Ihnen, spät allerdings (weil wir Ihnen Besseres zugetraut haben) einen Vorschlag zu einem Programm wie wir es sehen. Dieses Programm würde bewirken, dass interessierte Organisationen (also kirchliche und homosexuelle) miteinander die Probleme beleuchten und jeder das beiträgt, was ihm ab origine liegt. [...]

Sie haben im Januar selber gesehen, dass es sich bei den Homosexuellen im allgemeinen nicht um eine Sorte mongoloider oder moralisch unterentwickelter Mitmenschen handelt, sondern durchaus um eigenverantwortliche Individuen, denen die Gesellschaft, und damit auch die Kirchen, den ihnen zukommenden Platz zukommen lassen muss.

Unter dem Aspekt von Verschuldung oder nicht Verschuldung, von Korrigierbarkeit und angeborener Neigung bleibt das Verhältnis von Kranken oder gar Kriminellen zur Gesellschaft bestehen [...]. Sie haben das damals im Januar sehr wohl begriffen. Aber nun denkt ein weiterer Theologe [Siegfrid Meurer] in ausgefahrenen Karrengeleisen und Sie fallen prompt ebenfalls auf diesen Wissensstand zurück. Warum?

Indem wir Sie nochmals fragen, ob Ihr Programm für Boldern II dazu angetan ist, einen rechten Schritt in der Richtung auf die vorurteilslose Integration der Homosexuellen in die Gesellschaft zu tun, grüssen wir Sie freundlich."

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Ernst Ostertag, November 2006

Anmerkungen
1

Das Original dieses Briefes ist im sas, Schwulenarchiv Schweiz