1985

Keine Sündenböcke!

Aids und Emanzipation

Die Broschüre "Heutiger Wissensstand" der AHS (Aids-Hilfe Schweiz) enthielt auch ein Kapitel "Forum der Meinungen".1 Darin waren die Gedanken und Schlüsse einer "Gruppe Schwuler der HAB" (Homosexuelle Arbeitsgruppen Bern) zusammengefasst. Sie zeigen die Stimmungslage und Sorge dieser Männer, die trotz Aids die weitergehende Emanzipation in den Augen behalten wollten und sich gegen jede Schuldzuweisung an Homosexuelle wehrten:

"Obwohl wir in dieser Broschüre fast ausschliesslich über die medizinischen Aspekte von Aids berichten, sollten wir dieses Thema nicht auf ein gesundheitstechnisches Problem reduzieren.

Wenn die Medien die Ausbreitung oder gar die Entstehung der neuen Krankheit dem häufigeren Partnerwechsel der Schwulen zuschreiben, unterschlagen sie die Tatsache, dass Aids in Zentralafrika lange vor Amerika und Europa als Krankheit existierte. (Laut Zeitungsberichten wurden in Zentralafrika 12 Jahre alte Blutkonserven gefunden, die Antikörper gegen Aids-Viren enthielten. In vielen Ländern Afrikas, Asiens und Lateinamerikas müssen häufig Menschen aus nackter Not als BlutspenderInnen herhalten, um ein wenig Geld zu verdienen. Der Handel mit diesen Blutkonserven ist ein Millionengeschäft und könnte neben dem Sex-Tourismus ein möglicher Verbreitungsweg für Aids sein. Beides - Blutkonservenhandel und Sex-Tourismus - verweist auf die Ausbeutung der Menschen in diesen Ländern.)

Sicher hat der häufigere Partnerwechsel, verbunden mit einigen Sexualpraktiken, die Verbreitung des Virus unter den Schwulen begünstigt. Wer nur dieses Faktum nennt, verschweigt aber die Ursachen des häufigen Partnerwechsels. Er wird oft durch die bewusste und unbewusste Schwulenfeindlichkeit der Umwelt erzwungen, die das Leben von schwulen Beziehungen unterdrückt oder gar verunmöglicht. Kann denn ein Schwuler, der sein Schwulsein noch nicht akzeptieren konnte, tragende Freundschaften aufbauen, die ihn als ganze Person umfassen und damit weit über die Erlebnisse in Anonymität hinausgehen?

Sind wir etwa nicht zu (heterosexuellen) Männern erzogen worden und lernten dabei, dass die geforderte Männlichkeit sehr viel mit der Abspaltung unserer Erlebensbereiche und unserer Wahrnehmung zu tun hat?

Das neu aufgetauchte Wort von 'Aids als Chance' ist aus der Angst entstanden. Unsere Ängste müssen wir ernst nehmen, sie aussprechen, denn [...] wir riskieren, dass die Verbindung von Angst und Schuldgefühlen uns in noch mehr Ohnmacht und Selbstunterdrückung treibt. [...] Wir brauchen die Bedrohung durch Aids nicht, um uns mit uns und unserem Leben und unseren Träumen auseinanderzusetzen. Auseinandersetzung mit der Realität unseres Sterbens - ist die Frage nach dem WIE unseres LEBENS!"

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Ernst Ostertag, März 2008

Quellenverweise
1

Heutiger Wissensstand, Seite 22 und 23, Broschüre zur Aidsaufklärung der AHS