Newsletter 168

Dezember 2023

Diese Ausgabe enthält die folgenden Themen:

  • Ein zweiter Stolperstein
  • Wir wünschen allen schöne Festtage und ein gutes Jahresende!

Ein zweiter Stolperstein

eos. Am 28. September 2023 erhielt ein weiteres homosexuelles Nazi-Opfer sein Denkmal und seinen Grabstein, diesmal in St.Gallen. Inzwischen sind es rund 100'000 Stolpersteine in über 20 Ländern. Meist erinnern sie an jüdische Menschen, die im Nazi-Terror umkamen. Aber die Geschichte lehrt uns, dass dort, wo Juden diffamiert werden, auch das Ausgrenzen und Verfolgen von Homosexuellen geschieht oder geschehen wird. Wo Hass seine Fratze offen zeigt, wird er zur ansteckenden Krankheit, frisst sich ins Fühlen und Denken und macht aus Menschen einseitige Follower, blinde Sklaven jenes Trends, der Hass transportiert. Nazi-Faschismus kennt nur gut oder böse und schaltet selbständiges Denken aus. Wir erleben das jetzt. Darum brauchen wir Stolpersteine. Das Stolpern weckt auf.

Hey, was geschieht jetzt? Weil Krieg herrscht. Weil Ängste da sind. Weil wir etwas tun wollen. Jene, denen Stolpersteine gelten, sie waren einmal Sündenböcke. Man eliminierte sie, Unschuldige, weil man die Eigentlichen nicht treffen konnte oder wollte. Und machte sich selbst zum Sünder. Das muss und das kann gestoppt werden. In unseren Köpfen. Immer wieder. Stolpersteine lassen nachdenken. Wir erinnern drum jetzt an einen. Jahresende ist Zeit des Nachdenkens.

Arthur Bernhard Vogt: "Ein Schwieriger"

Der St.Galler Stein gilt einem Schwierigen, der nur Pech und Pannen erlebte: Arthur Bernhard Vogt. Geboren in der Schweiz 1912, aber Ausländer wie sein Vater. Die Mutter, Schweizerin, verlor ihr Bürgerrecht. Das war Gesetz, wenn sie einen Ausländer heiratete. Und ihre Kinder waren alle ebenfalls Ausländer, kaum hatten sie ihren ersten Schrei getan. Sie hatte zwei Buben. 1914 musste der Vater als Bürger des Habsburger Kaiserreichs in den Krieg. Zurück kam er 1918 als Bürger der neuen tschechoslowakischen Republik, seine Front-Traumata ersäufte er im Alkohol. Dennoch brachte er die Familie als Schneider durch mit der Frau zusammen, die in der Stickerei arbeitete. Wo und wie die Buben den Tag verbrachten, das ist in keinen Akten aufgezeichnet. Der ältere wurde Coiffeur, der jüngere, Arthur Vogt, dem nun der Stein gewidmet ist, zog mit 16 aus.

Arthur Bernhard Vogt war homosexuell und lebte im Dauerstreit mit dem Vater. Er war 1.92 m gross und stark, wohnte mal da, mal dort, arbeitete meist als Hotelbursche oder Portier, lag ständig mit Behörden im Clinch, wegen "unsittlichen Handlungen", Diebstählen, Mittellosigkeit. Er wurde regelmässig aufgegriffen, gelegentlich vor Gericht gestellt und für einige Tage ins Gefängnis gesteckt oder als Ausländer in die ursprüngliche Wohngemeinde St.Gallen zurückgebracht. Dort setzte man bis zur Volljährigkeit einen Vormund ein.

Aus der Schweiz ausgeschafft

1934, als er 22 war, erfolgte der behördliche Entscheid, ihm die Niederlassung zu entziehen. Man stellte Arthur Vogt per Ausschaffungsbefehl in Basel an die Grenze des Deutschen Reiches. Wenige Wochen später kehrte er beim österreichischen Lustenau über den Rhein wieder zurück, denn er sah nicht, was er in seiner fernen tschechischen Heimat tun sollte. Noch nie war er dort gewesen, auch die Sprache war ihm fremd. Erneut führte er dasselbe Leben wie zuvor als Hotelbursche an den verschiedensten Orten in der Schweiz und wiederum kassierte er kurze Gefängnisstrafen wegen denselben Delikten. Schliesslich schritt das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement ein, verhängte die definitive Ausschaffung und vollzog sie sofort. Das geschah im März 1937 mit einem Bahnbillett von St. Margrethen direkt nach Eger an der tschechischen Grenze. Nun blieb Arthur im Hitlerreich, das ihn mit seinem neu verschärften Homosexuellen-Paragraphen akut gefährdete und 1938 zudem vom "Sudetendeutschen" zum Reichsbürger machte. Mit Kriegsbeginn ein Jahr später musste er jederzeit die Einberufung an die Front erwarten. Die Lage wurde für Arthur Bernhard Vogt zusehends bedrohlicher.

Zum Tod verurteilt

So versuchte er noch einmal, im März 1943, die Flucht in die Schweiz, wiederum bei Lustenau. Aber sie misslang, er wurde gefasst, in Feldkirch verhört und in München eingekerkert. Das Hakenkreuz des Reiches war am Sinken: militärische Niederlagen an allen Fronten, die Städte mehr und mehr zerbombt. Und dazu kam das missglückte Attentat auf Hitler im Juli 1944. Die Nazis, nervös, eliminierten jeden Reichsgegner erbarmungslos. Der Volksgerichtshof Berlin stellte für Arthur Bernhard Vogt das Todesurteil aus wegen Feindbegünstigung und Entzug der Arbeitskraft durch Fluchtversuch. Es wurde am 12. September 1944 durch das Fallbeil vollstreckt.

Details und Bilder im neuen Kapitel des Abschnitts Stolpersteine:
Arthur Bernhard Vogt

Wir wünschen allen schöne Festtage und ein gutes Jahresende!

hpw. Mit einer nachdenklichen Kolumne beschliessen wir die Newsletterreihe des Jahres 2023. Wir leben in herausfordernden Zeiten. Sie zeigen uns, wie wichtig es ist, dass Geschichte nicht vergessen geht und dass unsere Geschichte dank schwulengeschichte.ch für alle einfach zugänglich ist. Wir vom Vorstand des Vereins schwulengeschichte.ch danken euch allen für eure Unterstützung, sei diese ideell, durch Mitarbeit oder als Mitglied und durch Spenden.

Wer hätte gedacht, dass Antisemitismus so plötzlich, so unverhohlen und so offen wieder im gesellschaftlichen Mainstream in Europa ankommen könnte? Und wer hätte gedacht, dass er sich aus den unterschiedlichsten politischen und kulturellen Kreisen zurückmelden würde? Auch anderen Minderheiten kann schnell und unverhofft wieder ein eisiger Wind entgegen wehen.

Die Website schwulengeschichte.ch ist ein Mittel gegen das Vergessen. Denn Ernst Ostertag beschreibt es natürlich hervorragend: "Wo Hass seine Fratze offen zeigt, wird er zur ansteckenden Krankheit. ... Das muss und das kann gestoppt werden. In unseren Köpfen. Immer wieder." Das ist unsere Aufgabe.

Die Wochen und Tage am Ende des Jahres geben uns hoffentlich die Möglichkeit, etwas zur Ruhe zu kommen und Kraft zu schöpfen. Das haben wir alle verdient. Nur so können wir weitermachen. Immer wieder.

In diesem Sinn wünschen wir euch allen eine gute Zeit, schöne Festtage und ein friedliches Jahresende.