Die Geschichte befragen

Nach dem Krieg wollte ich Zusammenhänge erkennen. Wie konnte eine so teuflische Macht entstehen und die Welt in Brand setzen? Ich hatte etwas von den Schrecken erfahren. Es gehörte zu meiner persönlichen Geschichte. Aber warum geschah die grosse Geschichte?

Zum Schulunterricht, nun im Evangelischen Lehrerseminar, gehörte dieses höchst spannende Fach. An der Römischen Geschichte war exemplarisch abzulesen: Die kulturelle Verflachung, das Phänomen der Masse und das Abgleiten in die Diktatur, in die Abhängigkeit von einem "göttlichen Führer" und seiner Clique. Aber das totale Abstürzen in die Einheitsmeinung, die totale Entmenschlichung in einer Doktrin des Staats- und Rasse-Egoismus, das war dem 20. Jahrhundert vorbehalten.

Wie kam es dazu? Fragen an die deutsche Geschichte. Aber nicht nur: Fragen ans Weltgeschehen. Warum sind die entsetzlichsten Monster der Menschheitsgeschichte mit ihren Dämonen rundum praktisch zur selben Zeit aufgetreten: Hitler, Stalin, Mao Tse-tung? Fragen im Sinne des sich "Rechenschaft Gebens", wie es Huizinga definiert. Damit aus dieser Rechenschaft Früheres aufgedeckt und abgeklärt, die Zusammenhänge eingesehen und verstanden werden, weil erst so Neues, Veränderndes anzugehen ist.

Die Zusammenhänge der grossen, vorab deutschen und europäischen Geschichte diskutierten wir mit dem Geschichtslehrer und untereinander, von den Ursachen der Reichsgründung unter Bismarck und Preussen mit dem Krieg gegen Frankreich 1871/72, der Einverleibung von Elsass und Lothringen, der tödlichen Feindschaft Frankreichs, die nach Bismarck durch das Unvermögen unter Wilhelm II in die Aufspaltung Europas in Blöcke und in den ersten Weltkrieg von 1914-18 führte. Die Politik der deutschen Demütigung danach, welche den Sturz in Inflation und Wirtschaftskrise mit Erniedrigung, Arbeitslosigkeit und Hunger brachte, worauf erst die magische Rattenfängerfigur Hitler mit ihren militanten Banden und fraglos faszinierten Nachläufern den Weg gehen, das Ergreifen der Macht erschleichen, ertrotzen, erstehlen konnte. Zum Schaden aller.

Dass aus der europäischen Katastrophe die Idee einer EU angedacht und über einen noch nicht abgeschlossenen Prozess von mehr als sechs Jahrzehnten Realität werden konnte, all das ist nicht zuletzt aus dem "Rechenschaft Geben" aller Beteiligten möglich geworden. Und auch meine in diese Geschichte verknüpfte Kindheit verlor ihr Trauma mit dem Einsehen der Zusammenhänge.

Ernst Ostertag, Oktober 2008