Denken

Fritz und Paul Sarasin verstanden sich als Idealisten, "denen es um den Geist gehe und die eine Weltanschauung ablehnten, in der alles materiell erklärt werde"1. Bei ihrer Forschertätigkeit gingen sie streng beobachtend, also nicht teilnehmend vor, und sie benutzten dazu alle nur erdenklichen Hilfsmittel, beispielsweise ein Siedethermometer, um die Höhe über Meer zu bestimmen2. Sie notierten alle ihre Beobachtungen zu Menschen, Fauna, Flora, Geografie, Geologie und Archäologie fein säuberlich, um sie später wissenschaftlich und publizistisch auszuwerten. Mit ihrer Sammeltätigkeit wollten sie die Dokumente der Entwicklungslinie der Menschheit retten und für die Nachwelt erhalten. Die Sarasin verstanden ihre Arbeit als Beitrag, Eingeborene vor "Zivilisierung" zu bewahren. Die Toála auf Celebes, "Rest eines kleinen Urstammes"3, ebenso wie die Wedda auf Ceylon waren "Trümmer"4 und "lebende Fossilien", die es direkt aus der Steinzeit in die Gegenwart verschlagen habe. Sie seien etwas Urtümliches und Unverfälschtes und sozusagen der lebende Beweis für eine einheitliche Entwicklungslinie der Menschheit, die von der Zeit der Sammler und Jäger über verschiedene Zwischenstufen in die Zivilisation der Gegenwart führe. Deshalb schlugen die Sarasin vor, solche Volksgruppen wie die Wedda und die Toála oder die Kagu (Rhynochetos jubatus), eine vom Aussterben bedrohte Vogelart in Neukaledonien, in eigentlichen Reservaten vor Ausbeutung, Modernisierung und - im Falle von Tieren - vor der Jagd zu schützen. Dasselbe Gedankengut stand auch hinter der Gründung des Schweizerischen Nationalparks.

Die Forschungsreisen in Ceylon und Celebes waren zu jener Zeit nicht nur ein Abenteuer und Zeitvertreib begüterter Männer, sondern dienten der Anhäufung von Wissen über die Naturgeschichte und über die Ordnung in den Verwandtschaftsverhältnissen der Lebewesen gemäss den damaligen Methoden und Theorien. Die Entwicklung der Natur und damit auch der Menschheit sollte durch systematisches Beobachten, Fotografieren, Vermessen und Dokumentieren festgehalten werden. Aus heutiger Sicht wird die Tätigkeit der Sarasin kritisch beurteilt: "In Celebes waren sie ein integraler Bestandteil der imperialen Expansionsbewegung."5 Fritz Sarasin bedauerte in späteren Jahren, dass mit der Zivilisation auch eine ursprüngliche Kultur auf Sulawesi verloren ging: "Die europäische Zivilisation hat unter militärischem Druck die ganze Insel erobert und neben vielem Schlechten auch manches Gute und Erfreuliche zum Verschwinden gebracht. Die Romantik der wilden, ursprünglichen Kultur ist für immer dahin."6 Ähnlich äussert er sich in einem Beitrag über die Loyalty-Inseln, deren Bevölkerungszahl nahezu stabil geblieben sei, "welches erfreuliche Ergebnis zweifellos dem Umstand zu danken ist, dass die Loyalty-Inseln durch Gesetz der europäischen Kolonisation verschlossen worden sind, welche sonst überall im Pazifik sich als für die Eingeborenen verhängnisvoll erwiesen hat".7 Doch Schär konstatiert: "Die Sarasins stellten nie den direkten Zusammenhang zwischen ihren Handlungen und den von ihnen beklagten Folgen her."8 Ihr - ambivalenter - Beitrag zur Zivilisierung der Welt war ihre Wissenschaft. Mit ihrer Forschung trugen sie zur Ausweitung der westlich-kolonialen "Zivilisation" bei, was sie gleichzeitig bedauerten, da damit das Leben der Naturvölker und die unberührte Natur zerstört werde.

Fritz und Paul Sarasin äusserten sich zu den Unterschieden und Entwicklungsstufen der Menschen, vertraten aber keine "aggressiv-rassistisch und pseudowissenschaftlich fundierte Überzeugung von der Existenz unterschiedlicher Rassen oder gar Menschenarten"9. Für die Sarasin ist der Mensch nicht aus verschiedenen Primatenwurzeln entstanden. Die "Varietäten" der menschlichen Erscheinungsformen seien vielmehr von derselben Art, die sich aber unterschiedlich ausformte. Die Vorstellung allerdings, dass sich die Menschheit von niederen zu höheren Stufen entwickelt habe, stellte Fritz in späteren Jahren in Frage. In der Geschlechterfrage gingen sie davon aus, dass die "Frau [...] vollkommen als ein Wesen für sich" betrachtet werden müsse.10 Ihr Denken blieb sehr konservativ: Sie sahen in den "primitiven" Völkern wie den Toála auf Celebes und den Wedda auf Ceylon ebenso wie in den Pfahlbauern Europas dieselben Ideale, die später die bürgerliche Gesellschaft bestimmten: "eine 'monogame' und 'wahrheitsliebende' Lebensweise und eine patriarchale, 'natürliche' Geschlechterordnung"11. Sie erkannten also nicht die Wandlungen und Entwicklungen der Geschlechterverhältnisse in unterschiedlichen Gesellschaften.12 Auch in der Beurteilung von wirtschaftlichen Entwicklungen blieben sie konservativ. Für sie waren Industrialisierung, Kapitalismus und Kommunismus Perversionen, die sie aufgrund ihrer bewahrend-konservativen Grundhaltung ablehnten.

Josef Burri, April 2016

1

Simon 2015, 243.

2

Fritz Sarasin 1931, 96f.

3

Paul und Fritz Sarasin 1905 Band 2, 261.

4

Ebenda, 296.

5

Schär 2015, 194.

6

Fritz Sarasin, 1931, 122.

7

Fritz Sarasin, 1931, 187.

8

Schär 2015, 182.

9

Simon 2015, 235.

10

Paul Sarasin, Fritz Sarasin, 1892-1893, 368, 373. Siehe auch Schär 2015, 234.

11

Schär 2015, 326.

12

Der geistesgeschichtliche Umbruch in den Geschlechtertheorien, der typisch ist gerade für das 19. Jahrhundert, findet bei den Sarasin keinen Widerhall. Die kulturanthropologischen Erkenntnisse von Margaret Mead über die Formbarkeit von sozialen Rollen kamen für die Sarasin zu spät. Siehe dazu auch Josef Burri: "Als Mann und Frau schuf er sie" - Differenz der Geschlechter aus moral- und praktisch-theologischer Sicht. Benziger Verlag 1977.

Literaturhinweise

Alfred Sarasin: Fritz Sarasin zum Gedächtnis. Mitteilungen der Schweizerischen Gesellschaft der Freunde ostasiatischer Kultur. Band 4 (1942), 58-60.

Fritz Sarasin: Zur Erinnerung an Paul Benedikt Sarasin, 1856 - 1929. Verhandlungen der Naturforschenden Gesellschaft in Basel, Band XL, 2. Teil, Basel 1929 [Separatdruck].

Fritz Sarasin: Führer durch das Museum für Völkerkunde Basel - Siam. Basel 1934.

Fritz Sarasin: Prehistorical researches in Siam. The Siam Society, Bangkok 3 (1959), 101-132.

Fritz Sarasin: Aus den Tropen - Reiseerinnerungen aus Ceylon, Celebes und Neu-Caledonien. Verlag Helbing & Lichtenhahn, Basel 1931.

Fritz Sarasin: Aus einem glücklichen Leben - Biographische Notizen. Basel 1941.

Paul Sarasin: Gedichte. C. W. Kreidel's Verlag, Wiesbaden 1893, 1904 neu herausgegeben.

Paul Sarasin: Der Brutparasitismus des Kuckucks und das Zahlenverhältnis der Geschlechter. Wagner'sche Universitäts-Buchhandlung, Innsbruck 1924.

Paul Sarasin, Fritz Sarasin: Ergebnisse naturwissenschaftlicher Forschungen auf Ceylon, Band 3 - Die Weddas von Ceylon und die sie umgebenden Völkerschaften - Ein Versuch, die in der Phylogenie des Menschen ruhenden Räthsel der Lösung näher zu bringen. C.W. Kreidel's Verlag, Wiesbaden 1892-1893.

Paul Sarasin, Fritz Sarasin: Reisen in Celebes - ausgeführt in den Jahre 1893-1896 und 1902-1903. Band 1 und 2. C.W. Kreidel's Verlag, Wiesbaden 1905.

Bernhard C. Schär: Tropenliebe - Schweizer Naturforscher und niederländischer Imperialismus in Südostasien um 1900. Campus Verlag, Frankfurt a.M. 2015.

Christian Simon: Reisen, Sammeln und Forschen - Die Basler Naturhistoriker Paul und Fritz Sarasin. Schwabe Verlag, Basel 2015.

Kuno Trüeb, Stephan Miescher (Hrsg.): Männergeschichten - Schwule in Basel seit 1930. Buchverlag Basler Zeitung, Basel 1988.