Lieben

Selbstverständlich war eine sexuelle Beziehung unter Männern in der damaligen Zeit und insbesondere in der "besseren" Basler Gesellschaft äusserst verpönt - und sie ist es noch heute, vor allem wenn Familienmitglieder betroffen sind1. Von 1872 bis 1919 wurden in Basel homosexuelle Akte sogar strafrechtlich verfolgt. Die Zeit für offen lebende schwule und lesbische Paare sollte erst sehr viel später kommen.2 Die Verbindung zwischen den beiden Sarasin war also aussergewöhnlich eng und von langer Dauer, und sie war nicht bloss eine romantische "Männerfreundschaft", sondern hatte eine homoerotische Komponente. Allerdings, so der Historiker Bernhard C. Schär, "lässt sich aus den [...] bekannten Quellen nicht erschliessen, ob die Beziehung der Sarasins auch eine sexuelle war".3

Kein Zweifel besteht jedoch an der Tatsache, dass es sich um eine Liebesbeziehung handelte. Paul verherrlichte diese wie immer geartete "Liebe" in den 1893 publizierten Gedichten4, denen er eine Widmung voranschickte: "Meinem treuen Freunde Fritz Sarasin in herzlicher Liebe zugeeignet." In mehreren Gedichten wendet er sich direkt an seinen Freund, kenntlich gemacht durch die Initialen "An F.S.", beispielsweise in "Kampf und Sieg", worin Paul dichtet:

Wollen Viele gleich uns hindern,
Bleiben treu wir doch beisammen;
Soll'n uns nicht den Muth vermindern,
Der uns brennt in vollen Flammen;
Auf zum Sternenhimmel kehren
Wir die Augen muthentzündet,
Und den Gott wir warm verehren,
Der uns unser Glück gegründet.

Offenbar mussten die beiden ihre Liebesbeziehung gegen aussen verteidigen. In einem anderen Gedicht unter dem Titel "In Pavia", das er "an F.S." richtet, verherrlicht er seinen Freund:

Es brennt die Sonne durch Rebenlauben,
Durchleuchtet den Wein mir mit Macht,
Da hab' ich an dich nur, du kannst es glauben,
Mit Sonnenfreude gedacht.
Purpurn funkelt der Wein,
Hell leuchtet die Sonne drein,
Und in dem Doppelglanze verwoben
Seh' ich dein trauliches Bild erhoben.
Du bleibst mir treu in den seligsten Stunden,
Ich habe als Glücklichster dich gefunden,
Du wirst auch in schlimmen nicht mich verlassen,
Du Stern meiner Nacht, nie wirst du erblassen.

Das Gedicht-Bändchen provozierte in Basel einen Skandal. Wohl auf Betreiben der Mutter von Paul wurde die Publikation zurückgezogen und vernichtet.5 Einige Exemplare hatten Fritz und Paul auf die Reise nach Celebes mitgenommen und dort "in trauriger Stimmung" unter einer Palme vergraben.6

Als Paul wegen seiner Gichtkrankheit zur Kur fahren musste und Fritz in Basel zurückblieb, schrieben sie sich mehrmals wöchentlich oder gar täglich Briefe ("herzlichste an dich von deinem dich liebenden f.", gemeint sind Grüsse). Ihre erworbenen Bücher stempelten sie mit dem Text: "Ex Libris / C. F. & P. B. Sarasin". Das mag ein Detail sein. Aber welches heterosexuelle Männerpaar käme schon auf eine solche Idee? Nur zögernd folgte Fritz der Aufforderung, einen Nachruf auf Paul zu verfassen: "Während fast des ganzen Lebens sind wir in so enger Verbindung gestanden, dass ein Nekrolog Pauls zum guten Teil auch meinen eigenen bedeutet, und das wird meine Bedenken zur Genüge erklären."7 Obwohl die eheähnliche Beziehung der beiden Sarasin nach deren Rückkehr in die Schweiz nicht unentdeckt blieb, hinterfragte niemand mehr diese Männerfreundschaft oder bezeichnete sie wohlmeinend als "Forschersymbiose"8; denn beide hatten in Wissenschaftskreisen einen über die Schweiz hinaus guten Ruf, und Basel profitierte von den äusserst grosszügigen Geschenken der beiden an die Basler kulturellen Institutionen und den Zoologischen Garten.

Paul verherrlichte in seinen frühen Gedichten die Natur und sprach ihr göttlichen Charakter zu. "Dass, was man Gott nennt, einzig ist Natur", heisst es in einem Gedicht9. Sie zu kennen, ist für ihn höchstes Glück. Warum Paul und Fritz zu so bemerkenswerten Naturforschern geworden sind, lässt sich möglicherweise darauf zurückführen, dass sie gezwungen waren, sich mit ihrer eigenen "Natur" auseinanderzusetzen, die in einer von Gott geschaffenen Veranlagung oder Begabung wurzelt. Als "natürlich" galt zu ihrer Zeit nur eine Beziehung zwischen Mann und Frau. Sie werden die beiderseitige Anziehung füreinander und das Glück, das daraus entsteht, als Teil ihrer Identität verstanden haben, die in ihren Augen nicht "widernatürlich" oder "widergöttlich" sein konnte, aber im Widerspruch zur gesellschaftlichen Norm und zu den lokalpolitischen Anforderungen an eine standesgemässe Heirat stand.10

Josef Burri, April 2016

1

Mündliches Interview mit Louis Schlumberger, der selber aus der Basler High Society stammt und mehrere Beispiele familiärer Diskriminierung wegen Homosexualität zitierte (4.2.2016). Als wesentlicher Grund für die Ablehnung schwuler Familienmitglieder wird die Befürchtung vermutet, dass das Familienerbe in "fremde" Hände gelangen könnte.

2

Kuno Trüeb, Stephan Miescher (Hrsg.): Männergeschichten - Schwule in Basel seit 1930. Buchverlag Basler Zeitung 1988.

3

Schär 2015, 49.

4

Paul Sarasin 1893.

5

Simon 2015, 109f.

6

Schär 2015, 56.

7

Fritz Sarasin 1929, 1.

8

Verhandlungen der Schweizerischen Naturforschenden Gesellschaft, Band 122 (1942), 304 (S. Schaub).

9

Paul Sarasin: Naturae Interpres, in Sarasin 1893, 25.

10

In diesem Zusammenhang ist von Interesse, dass Fritz Sarasin der Ehe und dem Junggesellentum einen kulturvergleichenden Artikel widmete (Die Anschauungen der Völker über Ehe und Junggesellentum, Schweizerisches Archiv für Volkskunde, 33 / 1934, 99-143). Bemerkenswert ist auch ein Beitrag von Paul Sarasin, worin er das Verhalten der Kuckucks-Weibchen, Eier in fremde Vogelnester zu legen, auf deren Polyandrie zurückführt: Da Kuckucks-Weibchen erheblich seltener vorkommen als Männchen und deshalb ständig mit der Paarung beschäftigt sind, fehlt den Weibchen die Geduld für die Nestpflege und Aufzucht ihres Nachwuchses (Paul Sarasin 1924).