Abgrenzung

Gegenüber Prostitution und Strichjungen

"Ich kenne Berlin und Sie sollten mal sehen, welch nette Bengels sich da an die Liebhaberwelt heranmachen und sehr zu verstehen geben, um was sich die Sache dreht. Berliner Jungens sind sehr hochanständig und bieten dem Freunde wundervollen Lebensgenuss. Hoffentlich ist das auch bei Ihnen der Fall, wenn ich Ihr Lokal wieder besuche."

Dieser Brief eines Touristen aus Südbayern ging an den Inhaber des Café Promenade in Zürich und bezog sich auf ein Inserat des Cafés im Berliner Freundschaftsblatt. Das Freundschafts-Banner 19/1932, setzte ihn unter den Titel "Zürich ist nicht Berlin!" und fügte hinzu, der Schreiber disqualifiziere sich selbst, Kommentar überflüssig. Dann folgte:

"Aber bezahlen fürs Lieben, fürs Küssen?
Ein bitteres Elixier,
Und die es doch tun müssen,
Sind schlechter dran als ein - Tier."

Diese ablehnende Haltung gegenüber Strichjungen und Freiern setzte sich - immer wieder an Beispielen aufgezeigt - durch alle 35 Jahre bis zum Ende des KREIS unreflektiert fort. Sie galt auch an Zusammenkünften, wo gemäss interner Regel allen Abonnenten, die einen "unseriösen Gast" einführten, der sofortige Ausschluss drohte.

Natürlich musste man Organisation, Zeitschrift und Abonnenten absichern. Das gesetzliche Verbot männlicher Prostitution fiel erst 1992. Aber allgemein definierte jeder seine Seriosität als Homoerot über die strikte Distanz zum Strichertum. Dies war unrealistisch und in vielen Fällen verlogen moralisierend, vor allem, wenn das Ideal einer gelebten Partnerschaft nicht gelang oder gar nicht angestrebt wurde.

Damals herrschte die Wirtschaftskrise der 30er Jahre mit grosser Arbeitslosigkeit, besonders unter den Jungen. Es gab keine Lehrstellenbörse, keine Schulungsprogramme, kein soziales Netz. Viele Jugendliche standen auf der Strasse, weil bei den Eltern auch nichts mehr zu holen war.

Kleinkriminalität blieb oft der einzige Weg, sich über Wasser zu halten. Als Strichjunge hatte man eine gewisse Perspektive, vielleicht ergab sich über einen Freier etwas in Richtung Arbeit und besseres Leben. Sehr wohl möglich, dass die oben im Brief erwähnten Berliner Jungs zu dieser Art von Schutz und Perspektive Suchenden gehörten.

Karl Meier kannte diese Zusammenhänge sehr wohl, auch wenn sie in seiner Zeitschrift (ab 1934) nie zur Sprache kamen. Er hatte immerhin um 1930 einen Monolog "Die Tiergartenballade" geschrieben, in der er einen Stricher so eindrucksvoll schildert, dass der Leser oder Zuhörer betroffen mitgeht und für den Jungen auch dann tiefe Sympathie empfindet, wenn er seinen hochnäsigen Freier erschiesst und sich der Polizei stellt.

Karl Meier liess diesen Stricher an einem Herbstfest des KREIS durch Röbi Rapp darstellen. Das war 1959, zwei Jahre nach den Morden an zwei Homosexuellen durch Strichjungen und während der dadurch losgetretenen Pressehetze. Ebenso mutig wie ehrlich wurde mit diesem Monolog ein deutliches Zeichen gesetzt. In die Zeitschrift allerdings brachte es die "Tiergartenballade" nie.

Es scheint uns (Röbi Rapp und Ernst Ostertag) wichtig, im Kapitel über den Anfang der ersten Homosexuellen-Organisation und Zeitschrift des Landes die immer wieder verdrängte und ausgegrenzte männliche Prostitution anzusprechen - sie gehört zur Schwulengeschichte.

Denn abgesprochenes, faires Nehmen und Geben und länger dauernde Beziehungen sind Grundstrukturen der männlichen Prostitution. Strichjungen tauchen im Leben vieler Homosexueller regelmässig auf und oft wird der eine oder andere zum wichtigen Begleiter auf längere Zeit.1

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Ernst Ostertag, Februar 2005

Weiterführende Links intern

Karl Meier

Anmerkungen
1

Bei etlichen Heterosexuellen ist das mit ihren Dirnen kaum anders, wenn sie ehrlich sind.