1972/1973

Vorträge

… und Kommentare

Den Anfang machte der Psychiater Dr. med. Berthold Rothschild, Zürich, mit dem Thema "Scheinliberalisierung der Sexualität". Auf dem von der HAZ verteilten Flugblatt stand zusätzlich:

"Es geht darum, aufzuzeigen, wie gesellschaftliche Bedingungen in Geschichte und Gegenwart jede Form von Sexualität Einzelner und ganzer Gruppen bestimmt."

Die Zürcher AZ (Abend-Zeitung) brachte einen ersten Artikel zur Vortragsreihe, der im hey vollumfänglich nachgedruckt erschien.1 Dort wurde über Berthold Rothschild zusätzlich berichtet:

"Schon in seiner Vorlesung über Faschismus vor anderthalb Jahren zeigte Dr. Rothschild auf, wie verdrängte Sexualität Passivität schafft, die Menschen unpolitisch macht und bei der geringsten Auflehnung Schuldgefühle erzeugt. Die heutige sexuelle Emanzipation, so betonte er, sei weitgehend nur sexuelle Libertinage, die weiterhin der Verschleierung der tatsächlichen Verhältnisse diene."

Am zweiten Abend vom 30. November 1972 sprach der Sexologe Martin Dannecker aus Frankfurt a.M. über das Thema "Homosexualität und Gesellschaft". Auf dem speziellen HAZ-Flugblatt standen einführende Sätze und Zitate von Dannecker zu lesen:

"Dannecker ist der Auffassung, dass selbst fortschrittlich Gesinnte das alte Tabu Homosexualität insofern nicht antasten, als Homosexualität auch von ihnen nur als Abweichung vom Normalen verstanden und hingenommen werde. [...]

Diese scheinbare Toleranz hat - nach Dannecker - zur Folge, dass die Homosexuellen nicht länger verfolgt, sondern bemitleidet und 'geheilt' werden müssen: 'Wenn ich die Entwicklung nicht ganz falsch einschätze, wird es darauf hinauslaufen, aus Kriminellen Kranke zu machen. [...] Die homosexuelle Subkultur ist der permanente Rückzug. Sie existiert bislang einzig aus der Anerkennung der Unterdrückung der Homosexuellen von seiten der Unterdrückten.' [Dannecker in 'Subkultur']"

Als Beilage zum HAZinfo Nr. 3 vom Dezember 1972 schrieb Martin Jäggi:2

"Seit Martin Danneckers brillantem Auftritt beginnt es einigen HAZ-Mitgliedern wie Schuppen von den Augen zu fallen. Es herrscht ein ausgeprägtes Vorher und Nachher. [...] Wurden früher in HAZ-Diskussionen Ausdrücke wie 'Bewusstmachung gesellschaftlicher Zusammenhänge', 'gesellschaftliches Engagement' [...] verwendet, so sahen das viele HAZ-Mitglieder bereits als bedenkliche Zeichen einer Unterwanderung der HAZ durch linksextreme Terroristen und Drahtzieher. Heute hingegen fliessen vielen Ausdrücke wie 'Förderung des politischen Bewusstseins unserer Mitglieder', 'soziales Engagement' oder 'wir als politische Gruppe' von den Lippen, als ob dabei überhaupt nichts wäre [...].

Es scheint, dass es manchem gegangen ist wie dem Saulus/Paulus am Weg nach Damaskus. Martin Dannecker muss dabei wie der berühmte Blitz aus heiterem Himmel viele vom Pferd geworfen haben. [...]"

Für dieses HAZinfo Nr. 3 lag die Redaktion bei der Arbeitsgruppe Psychologie; verantwortlich waren Niklaus Grab, Toni Schneider und Urs Bossart; Druck (Hektographie) beim VSETH (Verband der Studierenden an der ETH Zürich). Das Editorial wies auf die Vortragsreihe hin und dass sie erfolgreich angelaufen sei. In den anschliessenden Diskussionen sei jedoch "unsere Unsicherheit" hervorgetreten, was sich darin gezeigt habe, dass diese Diskussionen

"beherrscht waren von Stimmen, welche die vorgetragenen 'Thesen' entweder unterstützten oder verwarfen. Der Vorstoss zur Suche nach konkret realisierbaren Aktionen wurde nicht gewagt."

Dieses Nichtwagen deuteten die Psychologiestudenten als (noch bestehende) Unsicherheit der Teilnehmer.

Die nächsten drei Vorträge verliefen auf ähnliche Weise mit stets vollem Auditorium. Günter Amendt von Frankfurt a.M. referierte am 18. Januar 1973 zum Thema "Sexualverhalten von Jugendlichen in der Drogensubkultur, unter besonderer Berücksichtigung 'bisexueller' Verhaltensweisen. Ergebnisse einer empirischen Untersuchung."

Am 25. Februar hielt Dr. Jürgen Friedrichs, Hamburg, sein Referat "Institution Ehe" mit Hinterfragung dieses Ideals.

Am 8. März sprach Frau Dr. S. Meilof-Oonk aus Amsterdam zu ihren Untersuchungen über "Die Einstellung der Bevölkerung zur Homosexualität".

Den letzten Vortrag hielt PD Dr. Eberhard Schorsch vom Institut für Sexualforschung, Universität Hamburg, zum Thema "Sexualstrafrecht als Instrument der Repression". Das Flugblatt illustrierte den Titel mit zwei Thesen:

"Das heutige Sexualstrafrecht ist irrational, mit Vernunft allein nicht mehr zu begreifen: es widerspiegelt bestehende Vorurteile und Emotionen.

Die Irrationalität des Sexualstrafrechts entspricht genau dem Umgang mit der Sexualität in unserer Gesellschaft."

Dazu wurde weiter ausgeführt:

"Will man also das Sexualstrafrecht kritisieren, so muss man die herrschende Sexualmoral und ihre Hintergründe beleuchten. Der Referent unternimmt das unter anderem anhand der Auffassungen über Kindersexualität und Sex mit Kindern: 'Die Kinder werden gegen die Sexualität erzogen. Die wesentlichen Informationen, die dem Kinde über Sexualität gegeben werden, gehen dahin, das Kind vor 'Sittlichkeitsverbrechern' zu warnen. Daraus resultiert eine tief verwurzelte Koppelung von Sexualität und Verbrechen; dies kommt beispielsweise darin zum Ausdruck, dass wir als Terminus für sexuelle Unerfahrenheit 'Unschuld' benutzen.' "

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Ernst Ostertag, Juni 2006

Quellenverweise
1

hey, Nr. 11/1972 vom Dezember, Seite 11

2

HAZinfo Nr. 3 vom Dezember 1972