Rede von André Salathé, Staatsarchivar Kt. Thurgau

Vernissage vom Mittwoch, 3. Juni 2009, 19:00, Vortragssaal Kunsthaus Zürich

Frau Stadtpräsidentin
Herr Regierungsrat
Meine sehr verehrten Damen und Herren

Wenn ich mich richtig erinnere, dann ist vor ein paar Jahren für das schwullesbische Filmfestival Pink Apple, das seinen Ursprung ja in der thurgauischen Kantonshauptstadt Frauenfeld hat - der Thurgauer Apfel deutet es bis heute an -, mit der Schlagzeile Werbung gemacht worden: Mehr Schwule und Lesben als Bauern - in der Schweiz gebe es mehr homosexuelle Menschen als Beschäftigte in der Landwirtschaft.

Scharfsinnig, wie Staatsarchivare sein können - namentlich solche, die in Mathematik stets ungenügend waren -, schliesse ich daraus, dass es im Kanton Thurgau, der von allen Kantonen immer noch am meisten Landwirte ausweist, auch am meisten Schwule und Lesben geben müsse, der Kanton Thurgau folglich der schwulste aller Kantone sei. Nach dem Motto Das Starke stärken und das Schwache schwächen müsste unser Standortmarketing demzufolge weniger die solvente Familie Zürcher in den Thurgau locken, wie das seit Jahren versucht wird, als vielmehr gleichgeschlechtliche Partnerschaften, von denen es in der Limmatstadt ja auch einige geben soll. Der Thurgau täte dann selber, was er andern - etwas unbesonnen, ich gebe es zu - schon empfohlen hat: "Geh einmal in Deinem Leben zu weit. Dort siehst Du, wie es weitergeht. Der Thurgau."

 "Thurgau - der schwulste Kanton" - man kann sich diese Etikette, allem Scharfsinn seines Staatsarchivars zum Trotz, doch nicht recht vorstellen. Obwohl unser Kanton an die letztlich erfolgreiche Emanzipationsgeschichte der Schweizer Schwulen und Lesben tatsächlich sehr bedeutende Beiträge geleistet hat:

  • Es ist nämlich der Thurgauer Bundesrat Heinrich Häberlin gewesen, der sich Ende der 1920er-, Anfang der 1930er-Jahre, zwar etwas widerstrebend, aber letztlich eben doch davon überzeugen liess, mit dem neuen schweizerischen Strafrecht homosexuelle Handlungen zwischen Erwachsenen entkriminalisieren zu sollen.
  • Und es ist der aus einer bedeutenden Thurgauer Familie stammende Zürcher Strafrechtler Ernst Hafter gewesen, der ihn - mit einem eigentlichen Feldzug zugunsten der Sache - dazu gebracht hat. Ich glaube, man darf feststellen, dass diese Errungenschaft zu den Ruhmesblättern unserer Bundesstaats-Geschichte gehört.
  • Dass damit die gesellschaftliche Akzeptanz des Schwul- und Lesbischseins noch nicht automatisch gewonnen sei, wusste ein anderer Thurgauer: der damals eben aus Deutschland zurückgekehrte Karl Meier - "Rolf", dessen geschichtliche Bedeutung erst in jüngster Zeit erkannt worden ist und weiter erkannt werden wird. Er hat ab 1934 die Zeitschrift "Schweizerisches Freundschaftsbanner", ab 1937 die Zeitschrift "Menschenrecht" und ab 1942 die schliesslich dreisprachige Zeitschrift "Der Kreis" herausgegeben, redigiert und zu grossen Teilen sogar selber mit Artikeln versorgt. Und er hat bis 1967 den hinter der Zeitschrift stehenden Kreis homosexueller Männer geleitet.

Wegen der Leistungen von Häberlin, Hafter und Meier hat der Kanton Thurgau vor ein paar Wochen keinen Moment gezögert, Ihre Internetpublikation "Es geht um Liebe" finanziell zu unterstützen, und er hat es, wie ich meine, sogar in einem rekordverdächtigen Tempo und relativ grosszügig getan. Nicht nur, um im Rahmen eines manchmal vielleicht etwas allzu einfach gedachten Standortmarketings à tout prix als modern zu erscheinen, sondern weil in unserem Kanton tatsächlich viele für vieles oft aufgeschlossener sind als es von aussen besehen manchmal vielleicht scheinen möchte.

Und jedenfalls darf ich Ihnen heute die besten Grüsse der Thurgauer Regierung überbringen - und vor allem auch deren Anerkennung für Ihre grosse, wertvolle Arbeit.

Meine Damen und Herren

1964 oder 1965 war ich am Rockzipfel meiner Mutter unterwegs zu meiner Grossmutter, die in der Au bei Kradolf im Kanton Thurgau gewohnt hat, als uns, von einem Seitenweg einbiegend, plötzlich ein schlanker Mann tänzelnd entgegenkam. Meine Mutter war wie elektrisiert: "Isch-er’s? Joo, er isch es - neiii - doch, er isch-es: dä Karl Meier, tatsächlich!" Und schon stand der Mann vor uns und ich spürte, wie die Mutter Achtung-Stellung annahm. Das Gespräch war relativ kurz, weil der Mann unbedingt den nächsten Schnellzug nach Zürich erreichen wollte und bald einmal Richtung Sulgen weitertänzelte. Es sind mir keine Worte im Gedächtnis geblieben, aber meine linke Hand spürt immer noch die permanente Achtung-Stellung der Mutter. Sie galt dem Menschen Karl Meier und sie galt dem Schauspieler Meier, der für unseren Kanton in den vierziger und fünfziger Jahren eine nicht geringe Bedeutung gehabt hatte.

Als im März 1974 bei uns zuhause die Todesanzeige eintraf - Meier starb nur wenige Tage nach meiner Grossmutter und kam auf dem Friedhof in Sulgen neben sie zu liegen -, hörte ich die Mutter zum Vater sagen "Rolf? - Rolf - das wird wohl öppis mit-em, äääh …". - Seitdem ich 20 Jahre später einmal etwas Kleineres über Karl Meier und "Rolf" publiziert habe, spricht sie mit der gleichen Hochachtung, mit der sie früher von Karl Meier gesprochen hatte, auch von "Rolf".

Möge, was meine kleine Publikation im Kleinen bewirkt hat, Ihre grosse Publikation im Grossen bewirken! Ich wünsche es Ihnen jedenfalls herzlich.

André Salathé, Staatsarchivar des Kantons Thurgau