Newsletter 56

August 2014

Diese Ausgabe enthält folgende Themen: 

  • Kolumne: Liebesbriefe an einen Hochstapler und Erpresser
  • In eigener Sache: Website-Fassung Juli 2014
  • Hinweis: Podium zur Homophobie in Russland

      

Liebesbriefe an einen Hochstapler und Erpresser

eos. Die schwulen Liebesbriefe an einen Hochstapler und Erpresser, von denen hier die Rede ist, entstanden in der Zeit vom April 1802 bis März 1803. Total sind es 126 Briefe, verfasst vom damals wohl in ganz Europa bekanntesten Schweizer: Johannes von Müller (1752-1809). Er war ein hoch gebildeter "homme de lettres" auch im wörtlichen Sinn, denn er korrespondierte mit Gelehrten, Humanisten, Künstlern, Adeligen und Politikern europaweit und hinterliess 30'000 Briefe. Und dass er Männer liebte, war kein Geheimnis.

Zum gewaltigen Nachlass gehören auch die so genannten "Hartenberg-Briefe". Der Historiker André Weibel stellte sie 2004 ins Zentrum eines Vortrags anlässlich der Jahresversammlung des Vereins Schwulenarchiv Schweiz (sas). Er las einzelne Stellen vor, was die Zuhörer stark beeindruckte. Daraus entstand das Projekt einer Transkribierung, um sie erstmals - verbunden mit umfassenden Erläuterungen - einem breiten Publikum zugänglich zu machen. Diese gewaltige Arbeit wurde von der Heinrich Hössli Stiftung des sas und von etlichen Sponsoren gefördert und unterstützt. Nach zehn Jahren ist sie nun fertig geworden und liegt als zweibändiges Werk vor. Das folgende Zitat aus einem Brief Johannes von Müllers an seinen vermeintlichen Geliebten vom 4. Februar 1803 gibt einen Eindruck vom Stil und von der Gefühlslage der Briefe:

Abermals überlese ich den mit der Post gekommenen Brief; o Bruder, wie gantz fühle ich ihn, jedes Wort! u. was Du nicht sagst! Meine Seele ist allzu bewegt, um Dir mehr zu sagen! Das fühle ich, dass zwischen Menschen, welches Geschlechtes sie seÿn, etwas innigeres nicht existiren kan, als unsere Liebe zu einander.

André Weibel schildert, wie die Briefe entstanden sind:

"Im April 1802 vertraute Baron Fritz von Hartenberg (1781-1822) seinem langjährigen Vertrauten und Gönner Johannes von Müller [...] an, er habe auf einer Redoute [Ballsaal oder Tanzveranstaltung] einen schönen und reichen ungarischen Grafen namens Louis Batthyány Szent-Iványi kennengelernt und sei dessen Liebhaber geworden - Müller solle Louis ebenfalls kennenlernen und mit ihm in Korrespondenz treten."

Müller ging darauf ein, und bereits im ersten seiner Antwortbriefe erklärte der Ungar, dass er Johannes von Müller liebe, dass er dessen Werke bewundere und ein reizvolles Portrait von ihm habe und ja, er wolle gerne sein Leben mit ihm zusammen verbringen. Zuvor aber möchte er den jungen Hartenberg adoptieren. Demnächst würde eine grosse Erbschaft ihm zukommen, und bis dahin solle Müller bitte diesen gemeinsamen jungen Ziehsohn in Wien standesgemäss ausstatten.

"Dann würden die Freunde gemeinsam mit dem jungen Fritz in einer pikanten 'ménage à trois' auf immer das Leben geniessen."

Der alternde von Müller, er war 50, verliebte sich sofort in den schönen und wohl bald auch reichen vermeintlichen Grafen Louis, steckte all sein Geld in die Ausstattung des 21jährigen Fritz, verschuldete sich bis über die Ohren und schrieb täglich neue Liebesbriefe, reiste seinem Louis entgegen, um ihn, wie verabredet, zu treffen, verpasste ihn aber jedes Mal, wie André Weibel schreibt:

"Am Ende stellte sich heraus, dass es einen 'Grafen Batthyány' überhaupt nie gegeben hatte: Fritz hatte das Phantom erfunden und selbst mit Müller in verstellter Schrift an seinem Schreibtisch korrespondiert, in dessen Schubladen er Müllers Antworten wegschloss, wo sie, viele noch ungeöffnet, endlich auf Müllers Verdacht hin sichergestellt wurden. Müller zeigte Hartenberg Anfang Mai 1803 an, worauf dieser verhaftet wurde."

Es folgte Prozess und Gefängnis für den Erpresser. Müllers Glaube an Freundschaft und echte Liebe blieb für lange erschüttert.

Die Briefe als Ganzes sind ein Werk, das in der Brief-Literatur herausragt und ein Genre begründete, das seinen Höhepunkt erst ein Jahrhundert später finden sollte. Sie sind die ersten vollständig erhaltenen mann-männlichen Liebesbriefe und in einer für damalige Verhältnisse ganz neuen Sprache verfasst. Sie geben autobiografisch Einblick in von Müllers Denken und inneres Wesen, und sie enthüllen seine Vorstellung einer Welt für Männerliebende:

"Müller war sich beim Schreiben der Batthyány-Briefe jederzeit bewusst, für seine 'feurigsten' und aufrichtigsten Briefe, die auch noch in ferner Zukunft als klassische Zeugnisse sinnlicher Männerfreundschaft rezipiert werden sollten, eine neue Sprache für ein neues 'Genre' erfinden zu müssen",

schreibt Weibel. Sie

"zählen zu den frühesten überlieferten authentischen Liebesbriefen unter Männerliebenden überhaupt und sind kulturgeschichtlich hochbedeutende Selbstzeugnisse, welche die zeitgebundenen Vorurteile des 19. Jahrhunderts hinter sich lassen und in die Zukunft weisen".

Müller selbst glaubte, dass diese Briefe "weit, weit alle anderen Correspondenzen, die ich je gehabt, übertreffen".

Im ersten, 470 Seiten starken Band sind alle Briefe in der originalen Schreibweise und Sprache (teils französisch, teils deutsch) versammelt. Im zweiten Band, der 628 Seiten umfasst, folgen die eingehende Würdigung der Briefe, die Informationen zum Briefschreiber wie auch zum Betrüger, zur Intrige und zum Prozess in Wien im Jahre 1803. Nach Weibel dachte Müller sogar an ein "queeres Utopia", an eine Art von solidarischer Schwulengemeinschaft in ferner Zukunft.

Anlässlich der Jahresversammlung der Heinrich Hössli Stiftung und des Schwulenarchivs Schweiz vom 6. September 2014 in Glarus wird nebst dem neuen Werk über Heinrich Hössli (Newsletter 53) auch das Werk von André Weibel seine schweizerische Vernissage feiern.

Johannes von Müller: "Einen Spiegel hast gefunden, der in allem Dich reflectirt" - Briefe an Graf Louis Batthyány Szent-Iványi 1802-1803, hrsg. von André Weibel, Band 1 Briefe, Band 2 Nachwort und Kommentar, Wallstein Verlag, Göttingen 2014

Mehr zu Johannes von Müller

Mehr zu den Hartenberg-Briefen

  

Website-Fassung Juli 2014

sbj. Der Verein schwulengeschichte.ch und Autor Ernst Ostertag haben im Januar 2013 vereinbart, dass der "Zugang zu einer integralen, unbearbeiteten Urversion des Werks von Ernst Ostertag" immer gewährleistet bleibt. Dieser Zugang steht den Nutzern der Website ab jetzt zur Verfügung. Der Bereich "Epochen" mit dem Stand vom Juli 2014 kann als PDF, in einzelne Teile aufgegliedert, heruntergeladen werden. Ergänzungen und Bearbeitungen der Website gehen aber kontinuierlich weiter, so dass die online-Website immer den aktuellen Stand wiedergibt. 

Zur Website-Fassung Juli 2014

  

Podium zur Homophobie in Russland

Schwule, Lesben, Bisexuelle und Transgender (LGBT) sind in den letzten Jahren in Russland zunehmend unter Druck geraten: Die Gewalt gegen LGBT-Personen sowie Hassreden und Zeichen der Intoleranz von Politikern, Kirchenvertretern und Medien häufen sich. Die Opfer von homophober Gewalt finden weder bei der Polizei noch bei anderen staatlichen Behörden Schutz. Die Versammlungs- und Vereinsfreiheit sind für LGBT-Personen stark eingeschränkt. Mit dem Verbot der sogenannten homosexuellen Propaganda und der Gesetzgebung betreffend fremde Agenten wird versucht, die LGBT-Gemeinschaft mundtot zu machen und von ausländischer Unterstützung abzuschneiden.

Wie erleben die Betroffenen selber die Situation und wie können sie sich zur Wehr setzen? Entspricht die Homophobie tatsächlich einer breiten Stimmung in der Bevölkerung oder ist sie auf Behörden und Kirche sowie extremistische Kreise beschränkt? Wie ist der staatliche Druck auf die LGBT-Gemeinschaft in Russland aussenpolitisch einzuordnen? Und wie können die LGBT- und Menschenrechtsorganisationen sowie Politik und Behörden in Westeuropa helfen?

Zu diesen und anderen Fragen veranstaltet NETWORK am 6. September 2014 ein Podiumsgespräch mit Gulya Sultanova, LGBT Film Festival "Side by Side", St. Petersburg, Svetlana Zakharova, Organisation "Russisches LGBT Netzwerk", Boris Dittrich, Human Rights Watch, Andreas Gross, Nationalrat und Vertreter der Schweiz im Europarat, Claude Wild, Botschafter und Leiter der Abteilung Menschliche Sicherheit im Eidgenössischen Departement des Äusseren, und Max Schmid, Journalist und langjähriger Korrespondent des Schweizer Radios SRF in Moskau.

Das Podium wird eingeleitet durch zwei kurze Berichte von Gulya Sultanova und Boris Dittrich zur Situation in Russland. Das Podium wird moderiert von Hans-Peter Fricker, Gründungsmitglied und Leiter der Politischen Kommission von NETWORK und ehemaliger Geschäftsführer des WWF Schweiz. Dem Podiumsgespräch folgt eine Plenardiskussion. Zum Schluss wird ein Apéro serviert.

Die Veranstaltung findet statt im UBS Konferenzgebäude Grünenhof, Nüschelerstrasse 9, in Zürich.  Der Anlass ist öffentlich, der Eintritt für das Podium inklusive Apéro beträgt 50 Franken (Studierende, IV 20 Franken) und beginnt um 11 Uhr. Mehr Informationen dazu und Anmeldung