Newsletter 84

Januar 2017

Dieser Newsletter enthält folgende Themen:

    • Neujahrsgrüsse des Präsidenten
    • Selbstlose Kämpferin für die Rechte der Schwulen
    • Trouvaille: Gay New York 1890-1940

      

    Neujahrsgrüsse des Präsidenten

    Liebe Vereinsmitglieder
    Lieber Leser, liebe Leserin

    cdg. Das Jahr 2016 war für den Verein schwulengeschichte.ch ein intensives und abwechslungsreiches Jahr. Die meiste Aufmerksamkeit verlangte die zwingend notwendige Aktualisierung des Content Management Systems, verbunden mit einem neuen moderneren Erscheinungsbild für die gut 1800 Seiten schwuler Geschichte. Pünktlich zum Zurich Pride Festival konnte die "neue" Website der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden.

    Ein weiteres Highlight war die Podiumsdiskussion zur Entwicklung und Wirkung der Schwulenbewegung in der Schweiz von den Anfängen bis heute. Die aus drei Generationen stammenden Gesprächsteilnehmer Michel Rudin, Marcel Tappeiner, Daniel Bruttin und Ernst Ostertag liessen die Besucher an einer angeregten und spannenden Gesprächsrunde, die von Patrick Rohr moderiert wurde, teilhaben.

    Inhaltlich konnte die Website mit einem Portrait von Fritz und Paul Sarasin, dem Forscherpaar aus Basel, ergänzt werden. Unter "Epochen" erhellten Texte über Federico García Lorca und Charlotte Ilona Steurer sowie über das Zürcher Lighthouse weitere Aspekte der Schwulengeschichte. Gerne hätten wir mehr neue Inhalte publiziert. Doch die Notwendigkeit des Software-Updates hat die finanzielle Lage des Vereins überstrapaziert. Die Aufgabenliste der anzugehenden Projekte ist nach wie vor lang.

    Das deutlich verfehlte Budget ist nicht schön. Wir konnten zwar die Zahl der Mitglieder um gut 30 Prozent erhöhen. Doch das reicht noch lange nicht aus, um die Geschichte der Schwulen in der Schweiz weiter zu schreiben und sie solide in die Zukunft zu führen.

    Ich bin aber überzeugt, dass es mit vereinten Kräften gelingen wird. Erzählen Sie von schwulengeschichte.ch! Werden Sie Mitglied, oder fordern sie andere zur Mitgliedschaft auf! Schenken Sie uns Ihre Zeit und setzen Sie diese für den Verein ein! Spenden Sie steuerbefreit oder tragen Sie mit einem Legat dazu bei, schwule Geschichte zu dokumentieren und lebendig zu halten.

    Ich freue mich auf viele spannende Begegnungen und wüsche allen ein glückliches neues Jahr 2017!

    Christian D. Grichting
    Präsident, Verein schwulengeschichte.ch

    Selbstlose Kämpferin für die Rechte der Schwulen

    jb. Als Charlotte Ilona Steurer zum ersten Mal die Schweiz besuchte, wurde sie mit offenen Armen empfangen. Die Kämpferin für die Rechte der "Homophilen" in Österreich betrachtete den Schweizer Karl Meier / Rolf als grosses Vorbild und liess sich von ihm inspirieren. Sie schrieb auch als Korrespondentin für das in Zürich herausgebrachte Magazin club68 (Nachfolgeorgan des Kreis). In den sechziger und siebziger Jahren war sie eine von ganz wenigen Persönlichkeiten in Österreich, die sich für die Sache der Homosexuellen und für die Aufhebung des "Ausnahmeparagraphen" einsetzte. Sie schrieb dem Papst und der österreichischen Bundesregierung und korrespondierte mit Publizisten, Wissenschaftern und Engagierten in ganz Europa. Welche Rolle sie in der Emanzipationsbewegung der Homosexuellen spielte, hat der Berliner Historiker Raimund Wolfert untersucht:

    Charlotte Ilona Steurer

    Trouvaille: Gay New York 1890-1940

    sbj. Eine Buch-Entdeckung soll dem fleissigen User von schwulengeschichte.ch nicht vorenthalten werden, auch wenn diese in keinem direkten Zusammenhang zu unserer schweizerischen Website steht. Es geht um das epochale Werk des US-amerikanischen Historikers George Chauncey:

    Gay New York: Gender, Urban Culture, and the Making of the Gay Male World 1890-1940, Basic Books, 1994.

    Das Buch erschien zum 25. Jahrestag des Christopher Street Day. Und, was so eindrücklich ist, es räumt gründlich auf mit der a-historischen Meinung, dass alles, was vor 1969 in der schwulen Welt geschah, in Heimlichkeit, Isolation und Unterdrückung vonstatten gegangen sei.

    Der Autor zeigt eindrücklich, dass die gängigen und heute noch benützten Mythen der "Isolation", der "Unsichtbarkeit" und des "Selbsthasses" eine Erfindung der fünfziger und sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts waren. Ganz im Gegenteil: Die schwule Welt, mindestens von New York, war selbstbewusst, sichtbar und hochgradig (lokal, national und international) vernetzt, auch erstaunlich diversifiziert. Wir kennen das zwar von London, Wien, Paris und Berlin: Dort soll in den 20er Jahren der "Bär am Tanzen" gewesen sein. Aber wir wissen praktisch nichts Genaueres darüber, ausser aus (auto-)biografischen Erzählungen.

    Dass dasselbe auch für New York nachweisbar ist, zeigt Chauncey in seinem 500seitigen Buch. Mit Witz, Ironie, Akribie und Detailgenauigkeit führt er dem Leser vor Augen, dass nichts von dem, was wir über unsere eigene Geschichte glauben, der Realität entspricht. Damals war der Begriff "gay" noch nicht das gängige Aushängeschild für homosexuelles Leben und Lieben. Das homosexuelle Empfinden wurde durch die "Fairies" sichtbar gemacht: Sie kleideten sich auffällig, dandyhaft oder in Frauenkleidern mit Rouge auf den Wangen und gepudertem Gesicht. Die "Fairies" waren es denn auch, denen Razzien und Verhaftungen vor allem galten. Demgegenüber standen die "Queers", die sich völlig unauffällig kleideten und gebärdeten. Die "Queers" konnten mehr oder weniger ungestört ein Doppelleben führen, was in der Anonymität der Megastadt viel einfacher war als in kleineren sozialen Kontexten wie Kleinstädten oder gar ländlichen Gemeinden. Durch die immer grösser werdende Konzentration von "Fairies" und "Queers" in New York entstand eine schwule Subkultur, die der Autor unter dem Sammelbegriff "Camp" subsumiert: "campy" war alles, was der bürgerlichen, familienorientierten Kultur entgegentrat, und äusserte sich in der Doppeldeutigkeit von Sprache, Verhalten, Körperhaltung, Kleidung und zwischenmenschlicher Kommunikaktion.

    Beeindruckend ist auch das einfallsreiche Erproben und Einsetzen von Strategien gegen selbsternannte Moralapostel und andere konservative Kräfte. So entstanden zu Zeiten der Prohibition (Alkoholverbot, 1920 bis 1933) und der Grossen Depression (nach dem Börsencrash am Schwarzen Donnerstag, 24. Oktober 1929) eigentliche Zentren (Quartiere, Strassenkreuzungen, Hotels, Restaurants, Bars, Speakeasys, Saunen etc.), die mehr oder weniger integriert waren in das Lokalitäten-Angebot der gesamten City. Erst die Aufhebung der Prohibition (Repeal, 1933) führte zu einer massiven Ghettoisierung der schwulen Welt, da der Alkoholausschank an Homosexuelle grundsätzlich verboten wurde und jedem, der sich diesem neuen Gesetz nicht unterwarf, der Entzug seiner Lizenz drohte. Nur diese Ghettoisierung, die bis in die 60er Jahre wirksam war, ist in unserer Erinnerung an frühere Zeiten geblieben. Vergessen ging dabei, dass New York davor viel liberaler und lebensfreudiger war.

    Ähnliches zu lesen wünschte man sich über die anderen Megastädte (Berlin, Paris, Wien und London) anfangs der 20. Jahrhunderts. Und, vielleicht, über die Kleinstadt Zürich, die ja auch liberalere Zeiten gesehen hat, lange vor der "gay liberation" Ende der 70er Jahre.