Newsletter 109

Januar 2019

Diese Ausgabe enthält folgende Themen:

  • Fünfzig Jahre Gay Liberation, das Startjahr 1969
  • Karlheinz Weinberger – Buch über den Fotografen, der im Kreis Jim hiess

Fünfzig Jahre Gay Liberation, das Startjahr 1969

eos. Der Sturm auf die Pariser Bastille vom quatorze juillet 1789 geschah 180 Jahre zuvor und wurde zum Fanal für den Beginn der Französischen Revolution. Der Sturm aus der Stonewall Inn an der Christopher Street im New Yorker Greenwich Village war das Fanal zur weltweiten Befreiungsbewegung aller Falschsexuellen, also der LGBTIQA-Menschen. Beiden Ereignissen ging eine starke Repression durch die Staatsmacht voraus. In Frankreich wurde die Mehrheit der untersten Volksschichten durch eine Elite aus Adel und Geistlichkeit ausgepresst und ausgegrenzt; in New York war eine Minderheit von Unangepassten und "Perversen" das Opfer einer bigotten Mehrheit und deren Polizei. Beide Neuerungen veränderten zuvor gültige Formen der Gesellschaft. Die eine Entwicklung verlief blutig mit Guillotine und Kriegszügen, die andere fast total gewaltlos. Eine der wichtigsten Folgen der Französischen Revolution war die Erklärung der Menschenrechte. Diese Erklärung war auch die Basis, auf der sich die Gay Liberation entwickelte. 

Als die ersten Zeitungen in der Schweiz vom Aufstand in der Christopher Street berichteten, in Kurzmeldungen auf den hintersten Seiten, stand von einer "fröhlichen Befreiung" zu lesen. Andere Bedeutungen des Wortes "gay" waren in unserem Land (noch) unbekannt. Tatsächlich war vieles an den Demos, den Versammlungen und Diskussionen fröhlich, aber nicht nur. Man wusste sich im Recht, im Recht der Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika. Doch das Unrecht hatte Tradition. "I Have a Dream", den Traum der Überwindung des Unrechts. Das war Wunsch von Millionen. Doch der es aussprach, Martin Luther King, wurde im April 1968 erschossen. Es war gefährlich. Trotzdem, ein Zurück gab es nicht. Nicht für die Schwarzen, nicht für die Frauen, nach Stonewall auch nicht für die Schwulen, Lesben und alle anderen queeren Menschen. Es ging um Befreiung, um die Menschenrechte und die Freiheit - nun, im Sommer 1969, erst recht. 

Wir wurden 84, Röbi und ich, bis wir es im November 2014 endlich schafften, den längst gehegten Wunsch eines Besuchs der Christopher Street wahr zu machen. Wegen des KREIS-Films waren wir erstmals in New York und mussten täglich Interviews geben, teilweise an offiziellen Treffen. Denn der Film war für die Oscars nominiert. Aber am 11. November ist Armistice Day im Gedenken ans Ende des Ersten Weltkrieges, ein Feiertag in den USA. Auch wir hatten frei und konnten tun, was wir wollten. Also los!

Wir hatten Glück. Der Taxidriver bog in die richtige Strasse. Eingestiegen waren wir am Times Square. Als wir einen Shop voller Regenbogenfahnen entdeckten, stiegen wir aus. Dort drinnen kannte man den Weg. Nur noch über die grosse Kreuzung da vorn, dann wenige Schritte weiter geradeaus; aber es ist viel zu früh, sagte man uns, die Bar öffnet erst im Nachmittag. Wir folgten der Anweisung und standen vor dem zweigeschossigen Haus, elf Uhr morgens. Die Tür aber stand weit offen, mit einer Bierkiste fixiert. Vor dem Haus, eindeutig auf grossem Plakat als Stonewall Inn bezeichnet, stand ein grosser Lieferwagen, dessen Fahrer volle Harasse durch den breiten Eingang ins Innere trug. Wir folgten ihm und entdeckten ein geräumiges Restaurant mit Tischen und Stühlen und links davon eine Bar in der gesamten Länge der Innenwand. Ganz hinten ging es offenbar zur Küche und dem Lagerraum, wohin der Fahrer eben verschwand. 

Wir schauten uns um, die Bar war riesig, mit Buffet dahinter und auf beiden Seiten hunderten von Flaschen auf Tablaren, mit aufgehängten Werbe-T-Shirts "Where pride began. - The Stonewall Inn" und Bildern an der Wänden, Zeitungsausschnitten von damals. Ich begann zu fotografieren. Doch da erschien ein Mann, "No guests! Closed, closed, get out!" Er war offensichtlich der Chef hier, eine gedrungene, rundliche Person, ein Latino, ganz klar. Wir lächelten, suchten unsere paar Brocken Spanisch hervor und erklärten, wir seien Touristen aus Europa und möchten nur diese historische Stätte besichtigen. Das wirkte. Mit freundlicher Miene und ausholender Geste sagte er nur "andarte", was sowohl "leg los" wie "geh weg" heissen mochte. Ohne weitere Störung blieben wir noch eine gute Weile und sahen uns gründlich um. 

Wieder draussen auf der Strasse entdeckten wir weisse Skulpturen in einer kleinen Parkanlage schräg vis-à-vis und vermuteten, dass es Werke von George Segal (1924-2000) sein mussten. Wir gingen hin und fanden je ein lebensgrosses Paar: Zwei Freundinnen auf einer der Parkbänke, die eine hatte ihre Hand auf den Oberschenkel der anderen gelegt und schien mitten in einem wohl intimeren Gespräch zu sein.  Daneben standen zwei junge Männer, der Arm des einen lag locker auf der Schulter des anderen, auch sie sprachen miteinander, offensichtlich zwei gute Freunde. Die vier Menschen wirkten bis ins kleinste Detail so realistisch lebendig, dass wir zu hören vermeinten, was sie sich sagten. Irgendein Besucher hatte dem einen Mann einen Bund roter Rosen unter den Arm geschoben so, als hätte er ihn eben gekauft und für seinen Freund mitgebracht. 

Oder war es eine Geste, wie man sie hingelegt vor Denkmälern findet? Ja doch, das Ganze war ein Denkmal, ganz bestimmt. Von hier aus sah man zur Stonewall Inn hinüber, unverstellt jetzt, wo der Lieferwagen weggefahren war. Neben dem Frauenpaar fanden wir in den festen Boden aus Backsteinen eingelassen eine Tafel: Die Bronzegruppe nach Gipsmodell trug den Namen "Gay Liberation" und galt der Erinnerung an 1969, stellte aber weder den Aufstand noch eine der Demonstrationen dar, sondern zwei Lesben und zwei Schwule, die in aller Selbstverständlichkeit hier vor der Stonewall Inn ihren Alltag und ihre Liebe leben. Es war ein Denkmal, eine Verheissung, ein Wunsch und auch etwas Wirklichkeit, wenigstens in den glücklicheren Teilen unserer Welt.

Mehr zur Geschichte des Stonewall-Aufstandes hier und in allen fünf weiteren Kapiteln:

Christopher Street Day: 27. Juni 1969

Karlheinz Weinberger – Buch über den Fotografen, der im Kreis Jim hiess

Karlheinz Weinberger war ein Schweizer Fotograf, der im Kreis unter dem Pseudonym Jim zwischen 1943 bis 1967 Fotografien von Männern aus der Arbeiterklasse, Sportler und Motorradfahrer veröffentlichte. Seit den späten 1950er Jahren fotografierte er die sogenannten Halbstarken, später Biker, Rocker, Tätowierte usw. Als freier Sportreportagefotograf interessierte er sich vor allem für Ringen, Schwingen und Motorradsport. Insgesamt bildete Weinberger in den über 60 Jahren seines fotografischen Schaffens die Rückseite der bürgerlichen Welt in der Schweiz ab. 

Im Limmatverlag erschien im November 2018 der biografische Essay "Karlheinz Weinberger oder die Ballade von Jim". Darin zeichnet Patrik Schedler, der den Fotografen in seiner letzten Lebensphase künstlerisch betreute, entlang seines Werkes und seiner Erzählungen dessen ungewöhnliches Leben zwischen bürgerlichem Alltag und der Faszination für Menschen am Rande der Gesellschaft nach.

Website des Limmatverlags

Karlheinz Weinberger auf schwulengeschichte.ch:

...Hof-Fotograf des KREIS

...als Jim Hof-Fotograf des Kreis