Das kleinste Opernhaus der Welt
Als er dann Ende der 40er Jahre zusammen mit seiner Mutter nach Schwamendingen zog, bekam sein Hobby einen eigenen Raum. Die Wände legte er mit rotem Krepppapier aus, und in der Mitte zog er einen schwarzen Vorbau. Dahinter richtete er sich eine Bühne ganz nach seinen Bedürfnissen ein, einen Arbeitsplatz, wo er mit einer Hand den Plattenspieler bediente und mit der anderen Taschenlampen und Beleuchtungstableau, mit der dritten den Chor und mit der vierten die Solisten, mit der fünften weitere Auftritte in Stellung bringt und mit der sechsten den Vorhang zieht. Dass dabei während einer langen Aufführung einmal eine Figur hängen bleibt und eine andere mitten im tragischsten Augenblick vielleicht etwas gar auffällig zuckelt, weil der ins Schwitzen geratene Operndirektor in der Hitze des Gefechts an die feinen Drähte stösst, ist nicht weiter verwunderlich. Man kann sagen, es gehöre zum Charme dieser Art von Theatererlebnis, bei welchem die Zuschauer nicht allein vom Verlauf der Handlung und von der Schönheit der Arien gerührt sind, sondern ebenso vom Einsatz eines Mannes, der sich so ganz seiner Mini-Oper verschrieben und darin eine kaum zu überbietende Sachkenntnis und Meisterschaft erlangt hat.
Das Publikum von Vogelsangers "Lucia di Lammermoor" zum Beispiel kommt in den Genuss einer Aufführung, wie sie an andern Häusern kaum mehr geboten wird. Wo noch wird die Turmszene überhaupt gespielt, in welcher sich Ashton und Edgar in einem bravourösen Duett ihre Feindschaft bestätigen? Nicht einmal auf jeder Callas-Einspielung ist sie zu finden. Vogelsanger aber reicht sie mittels einer anderen Aufnahme aus seiner über 4000 Schallplatten umfassenden Diskothek nach. Dort singen Giuseppe Di Stefano und Roland Panorai.
Von einigen Opern existieren bis zu sechs Bühnenfassungen. Dabei haben es moderne, nüchtern gehaltene Inszenierungen beim Publikum schwerer als konventionelle, reichhaltige Puppenstubenausstattungen, bei denen es Akt für Akt viel zu entdecken gibt. Für Bühnenbildner Vogelsanger bedeutet dies aber auch Mehrarbeit, denn jede Figur, jedes Möbelstück, jedes Pferd, jeder Kronleuchter und jede Tapete will schliesslich individuell angefertigt werden. Und da in der Wohnung extremer Platzmangel herrscht, müssen überdies zur raumsparenden Lagerung die Bühnenprospekte zusammenklappbar sein.
Als Vogelsanger mit seiner Opernarbeit begann, existierten erst die 78er Schallplatten. Da spielte er nur die Highlights, denn ganze Aufführungen mit zwanzig oder noch mehr Scherben waren einfach nicht zu leisten und zudem viel zu teuer für den Dekorateur. So sang er damals oft dazu, wenn er mit dem Wechsel der Platten nicht mehr nachkam, oder wenn es einzelne Szenen zu überbrücken galt. Seit dem Siegeszug der Langspielplatte jedoch sucht der Intendant die Einhaltung von Werktreue und Vollständigkeit, was für den unterhaltungssüchtigen Zuschauer ein erhebliches Mehr an Aufmerksamkeit und Ausdauer bedeutet. Doch die meisten wissen ja, was sie erwartet, es sind Habitués, die sich das exklusive Vergnügen leisten, auf Vogelsangers Adressliste zu figurieren und angerufen zu werden, wenn das Stück ihrer Wahl wieder einmal auf dem Spielplan steht.
Nikolaus Wyss, Rigoletto im Puppenhaus, in: Das Magazin, 26./27. August 1988.