Priester: Aus der Verlogenheit befreit

Während seiner Zeit als Novize bei den christlichen Schulbrüdern wird Pierre Stutz klar, dass er nicht als Lehrer tätig sein will. Darum entschliesst er sich, Neuenburg zu verlassen und nach Luzern zu ziehen, um dort katholische Theologie zu studieren. 1985 erfüllt sich sein grosser Traum: Er wird zum Priester geweiht. Weiterhin reizt ihn die Arbeit mit Jugendlichen, so dass er sich sieben Jahre als Jugendseelsorger engagiert. Er brennt für diese Arbeit - doch letztendlich brennt sie ihn aus und katapultiert ihn Ende dreissig in eine tiefe innere Krise.

Nach einer Quelle dürstend, findet er eine solche: Er erinnert sich an die Quelle in Fontaine-André bei Neuenburg, wo er als Jugendlicher das Internat besucht hat. Die Texte christlicher Mystiker wecken seine Kräfte neu: Mit Mönchen von Fontaine-André gründet er eine im katholischen Milieu unkonventionelle Klostergemeinschaft: ein offenes Kloster. Frauen, Männer und Stagiaires auf Zeit leben Spiritualität im Alltag, wie in einem Kloster mit fixen Zeiten des Gebets. Fontaine-André ist für Pierre Stutz die Zeit des inneren Ringens um sein Coming-out. Als er es schliesslich 2002 wagt, der Öffentlichkeit mitzuteilen, dass sein Herz für einen Mann schlägt, bedeutet dies das Ende als katholischer Priester und den Wegzug von Fontaine-André.

Obwohl als Autor und Referent erfolgreich, bedauert Pierre Stutz, dass er nicht mehr als Priester wirken darf: Als Schwuler ist es ihm untersagt zu taufen, zu vermählen, zu beerdigen. Der Verstoss aus der katholischen Kirche lässt noch immer Emotionen in ihm auflodern:

"Es macht mich wütend, dass die katholische Kirche Verheirateten, Frauen und Homosexuellen die Weihe zur Priesterin oder zum Priester verweigert und sie dadurch ins Leiden treibt."

Zur "grossen Tragik" jeder Religionsgemeinschaft gehöre es, wenn "mehrheitlich männliche Glaubenswächter die Sexualität mit leibfeindlichen Verboten zügeln" wollen. Mit seiner Vergangenheit sei er indes weitgehend versöhnt, sagt er:

"Zwar leide ich an der Verlogenheit der katholischen Kirche, bin aber froh, nicht mehr darin gefangen zu sein."

Denn:

"Zum Glück ist die Liebe stärker als alle einengenden Lebensvorstellungen."

Marcel Friedli, Januar 2015