Würdigungsansprache von Josef Burri
Liebe Hedy Haueter, lieber Ernst Ostertag, lieber Giovanni Lanni, liebe Gemeinschaft der Freundinnen und Freunde von Röbi Rapp
Im Frühling 1994 sprachen Röbi und Ernst in Anwesenheit eines befreundeten Mönchs die dreifache Zufluchtsformel:
"Ich nehme meine Zuflucht zu Buddha. Ich nehme meine Zuflucht zu seiner Lehre."
Bei der dritten Zeile werden die beiden kurz gestutzt haben:
"Ich nehme meine Zuflucht zur Mönchsgemeinschaft."
Von ihren zahlreichen Reisen im Fernen Osten wussten sie, dass das Mönchsein noch keine Garantie für eine sichere Zuflucht ist, genau so wenig wie die Priester- oder Bischofsweihe eine Garantie für ein gottgefälliges Leben ist.
Doch in diesem Fall war die Vorsicht überflüssig: Ihr Mentor war der tibetische Arzt und Abt Akong Rinpoche. Ihn kannten die beiden schon lange, ihm konnten sie vertrauen. Als eine Art Kommentar zu ihrer besonderen Liaison erinnerte sie der Abt an das Buddha-Wort:
"Wir üben, die Beziehungen der Menschen zu achten und nicht zu verletzen."
Mit dieser Zufluchts-Zeremonie folgte die Aufnahme in die Karma-Kadschü-Schule, eine der vier oder fünf Hauptrichtungen im tibetischen Buddhismus. Aus Röbi Rapp wurde Karma Sherab.
Heute und an dieser Stelle hätte er wohl die dritte Zeile der Zufluchtsformel etwas anders formuliert, passend zur Situation und im Vertrauen auf die Menschen dieser Abschiedsfeier:
"Ich suche und finde meine Zuflucht bei Euch, bei der Gemeinschaft meiner Freundinnen und Freunde."
Seit vielen Jahren fühlte sich Röbi von den tibetischen Formen des Buddhismus angezogen. Hier konnte er die Entwicklungen und Windungen seines Lebens geistig verarbeiten. Die Biografin Barbara Bosshard zitiert in ihrem Buch eine Aussage Röbis:
"Das Leben der Menschen in buddhistischen Ländern hat mein Verständnis und meinen Charakter verändert. Ich bin toleranter geworden. Und es gelang mir, mich eher in den Hintergrund zu stellen. Ich habe mir Mühe gegeben, mich aufs Wesentliche zu konzentrieren."
Wenn wir auf die so genannten Vier Edlen Wahrheiten im Buddhismus blicken, dann reflektieren sie sich in Röbis Leben recht deutlich. Die Vier Edlen Wahrheiten bilden den Kern der buddhistischen Lehre.
Edle Wahrheit Nummer eins: Alles ist Leiden, alles ist vergänglich, immer wieder heisst es Abschied nehmen, von Geburt bis zum Tod. Schon nach der Geburt am 27. Mai 1930 wurde das Baby von seiner Mutter getrennt. Sie war tuberkulosegefährdet und musste ohne Verzug ins Sanatorium in Wald zurückkehren. Der kleine Röbi verbrachte die ersten sechs Monate seines Lebens im Säuglingsheim der Frauenklinik.
1937 der plötzliche Tod des Vaters, der ebenfalls Robert hiess: Das stürzte die Familie mit der 1923 geborenen Tochter Hedy, dem siebenjährigen Röbi und der Mutter Marie in eine tiefe Trauer und in eine finanzielle Notlage. Die Mutter, von Röbi "Mame" genannt, arbeitete als Wasch- und Putzfrau und zusätzlich als Garderobiere im Schauspielhaus und brachte so ihre kleine Familie über die Runden. Röbis Schwester Hedy, inzwischen 13jährig, kümmerte sich um den Haushalt und den kleinen Röbi. Der Schmerz schweisste die Familie zusammen.
Der schauspielerisch begabte Bub leistete früh Einsätze auf der Bühne und in einem Film, worin es ebenfalls um Schmerz und Abschied ging. Der Schweizer Spielfilm "Das Menschlein Matthias" von Edmund Heuberger, 1941 herausgebracht, erzählt die melodramatische Geschichte eines unehelichen Buben; er wächst auf dem Land bei der lieblosen Schwester seiner Mutter auf, träumt aber von einer intakten Familie, und er tut alles, damit dieser sehnlichste Wunsch in Erfüllung geht. Das Heimweh-Kind Röbi spielte die Hauptrolle und wurde für die Dreharbeiten zeitweise von Mame und Schwester getrennt. Wiederum ein Trennungsschmerz. Der Film wurde ein grosser Erfolg. Röbi, das Kind mit einem deutschen Pass, wurde zum Schweizer Kinderstar.
Wer hoch fliegt, der fällt auch tief. Deshalb die Edle Wahrheit Nummer zwei:
Die Ursache des Leidens ist das "Anhaften" ans Leben, der ständige Versuch, das flüchtige Glück festzuhalten. Flüchtigkeit und Wandel wurden zu Konstanten in Röbis Leben. Aus der Karriere als berühmter Schauspieler wurde nichts. Denn das Geld reichte für eine Lehre als Herren- und Damen-Coiffeur, nicht für die Kunst, nicht für die Violine und nicht für das Schauspiel. Später wurde er Lehrer in einer privaten Coiffeurfachschule, war kurze Zeit Vertreter der Firma Schwarzkopf im Nahen Osten, nicht erfolgreich genug, denn die Abschlüsse wurden oft im Bordell getätigt, wo Röbi nun definitiv nicht hinpasste. Er eröffnete in Zürich einen eigenen Coiffeur-Salon. Doch die aggressiven Kosmetikprodukte setzten seiner Haut zu. So musste er das Geschäft aus gesundheitlichen Gründen wieder abgeben. 1971 fand er eine Anstellung als Dokumentalist bei der Schweizerischen Rückversicherungsgesellschaft, eine Tätigkeit, die ihm zusagte und worin er Wertschätzung erfuhr. 1990 trat er dort in den Ruhestand.
Edle Wahrheit Nummer drei: Das Leiden kann nur durch die totale Vernichtung des Lebensdurstes aufgehoben werden. Der Geist befreit sich von den Fesseln des Anhaftens, der Gier nach mehr und dem Stolz auf Reichtum und Ansehen. Der Buddhismus verspricht nicht Heilung, sondern liefert bloss das Seziermesser, mit dem die Schlingen des Anhaftens durchtrennt werden sollen.
Röbi machte die Flüchtigkeit und Wandlungsfähigkeit zu seinen Markenzeichen. Und so wirkte er auch auf Ernst, der ihn 1956 erstmals im Opernhaus zufällig und kurz zu Gesicht bekam. Herz und Atem setzten aus: ein Engel, unwahrscheinlich schön, wie von zartem Wind leise verwischtes Haar, ein androgynes Wesen aus einer Zauberwelt. Wochen später und nach ein paar Irrungen und Wirrungen waren die beiden ein Liebespaar. Die Prophezeiung einer alten Zigeunerin, der die beiden 1959 in Spaniens Süden begegnet waren, sollte sich bewahrheiten: "Liebe ist ein Feuer. Lasst es ewig brennen." Etwas, das in der Edlen Wahrheit Nummer drei gar nicht vorgesehen ist, ein Wunder also. Sie waren Halt füreinander, auch als die Polizei erpresserische Methoden gegen die Schwulen anwandte und in der Presse Hetzartikel erschienen. Gemeinsam gegen den Schmerz, gezwungen zu einem Doppelleben in der Gesellschaft.
Doch zurück zum ewigen Wandel, zur Verwandlung vom Mann zur Frau und dann wieder zum Mann, zum Rollenwechsel und zur Flüchtigkeit und Schwerelosigkeit des Seins: Röbi trat ab 1949 in der Schwulenorganisation "DER KREIS" auf: als Chansonnier, als Schauspieler, als Kabarettist, als "female impersonator". Er spielte einen jungen Hirten, einen Strichjungen, den Königssohn Jonathan aus dem Alten Testament und immer wieder attraktive Damen. Diese Auftritte endeten mit der Auflösung des Kreises im Jahre 1967.
Ab 2000 kehrte Röbi gelegentlich wieder auf die Bühne zurück: Er wollte mit seinen Chansons und Travestien nochmals die "alte Zeit" der KREIS-Feste aufleben lassen und dokumentieren. Sein Lieblingslied war das ironisch-schillernde Chanson "Die Seltsame" nach einem Text von Hans Sahl und der Musik von Robby Frey:
"Ich bin so seltsam, ach,
Wie bin ich seltsam, oh!
Ich weiss vor lauter Seltsamkeit kaum mehr,
Ob ich noch lebe oder nur ein Traum wär',
Ich glaube fast, ich bin ein Teddy-Bär…"
Das Echo der "Seltsamen" hallte bis nach Los Angeles. Doch die Oscar-Juroren waren zuguterletzt taub für die seltsamen Klänge aus Europa, dokumentiert im Film "Der Kreis" von Stefan Haupt. Das war auszuhalten, gilt es doch die Gier nach Ruhm und Anerkennung zu zügeln. Siehe Edle Wahrheit Nummer 3. Die ja auch Überraschungen bereithält. Wie beispielsweise den unerwarteten Eintritt eines Giovanni Lanni in den Lebensbund von Röbi und Ernst. Auf dass das Feuer der "äwigen Liebi" weiterbrenne… Wieder ein Wunder! Wer auf Wunder wartet, wird enttäuscht. Wer nichts erwartet, der wundert sich, was das Leben alles für uns bereithält.
Edle Wahrheit Nummer vier: Wie gelingt die Vernichtung des Lebensdurstes? Der Buddhismus bietet dazu den achtfachen Pfad an. Röbi wandelte auf diesem Pfad, über Jahrzehnte.
Er meditierte, auf seine ihm eigene Weise. Es geschah im Verborgenen, beispielsweise beim Kartoffelschälen. Auf seinen Reisen mit Ernst in den Fernen Osten lernte er den Buddhismus kennen und schätzen. 1977 wandelten sie in Indien und Nepal auf den Spuren Buddhas, besuchten Tempel und Klöster. So wuchs die Einsicht in den Buddhismus und in den Kern der Lehre Buddhas.
Zum achtfachen Pfad gehört auch das rechte Handeln. Nach seiner Pensionierung im Jahre 1990 arbeitete Röbi für das Schweizer Hilfswerk ROKPA, das armutsbetroffene Familien in Nepal, Simbabwe und Südafrika ein besseres Leben ermöglichen will.
Röbi und Ernst erlebten die Diskriminierung der gleichgeschlechtlich Liebenden am eigenen Leib, auch die Kränkungen und Demütigungen, die auf die eigene Seele schlagen, und Ernst litt unter der Angst vor dem Verlust seiner Stelle als Lehrer. Ihr langer Kampf um Gleichberechtigung und Menschenwürde gipfelte schlussendlich in der Anerkennung der eingetragenen Partnerschaft, zunächst kantonal, dann national. Die beiden wurden zum helvetischen Vorzeigepaar. Es ist sicher nicht falsch, dass sie ihre Popularität genossen. Aber sie wussten: Sie spielten eine Rolle; sie wollten die öffentliche Meinung für die Sache der Homosexuellen positiv beeinflussen; sie wollten sichtbar sein, sie wollten Schwule zum Anfassen sein; denn nur durch Präsenz in der Öffentlichkeit ist Veränderung möglich. Sie wollten zum Ausdruck bringen: Schwule und Lesben sind Menschen wie du und ich. Und sie verdienen dieselben Rechte wie du und ich. Also rechtes Streben oder Ringen um das Richtige.
Röbi und Ernst waren und sind Augenzeugen und Betroffene einer Entwicklung, die den gleichgeschlechtlich Liebenden lange vermisste Rechte schlussendlich zuteilwerden liess. Sie gaben den Schwulen nicht nur ein Gesicht, sondern auch und vor allem eine Geschichte. Diese Geschichte, die Geschichte der Schweizer Schwulen im 20. Jahrhundert, ist in der Website schwulengeschichte.ch niedergelegt. Es ist dies ein Dokument von ausserordentlicher Wichtigkeit. Es ist weltweit die erste nationale Darstellung der Emanzipationsgeschichte der Schwulen. Die Website umfasst mittlerweile über 2000 Seiten und enthält hunderte von Bilddokumenten. Zu den häufigen Nutzern der Website zählen Neugierige aus den Bereichen Schule und Bildung, Publizistik und Politik. Während Ernst vor allem die Texte lieferte und um das richtige Wort rang, kümmerte sich Röbi um das Bildmaterial und beschaffte Dokumente. Röbi war das dritte Auge, das manchmal mehr sah als alle anderen Augen zusammen. Rechte Aufmerksamkeit auf dem achtfachen Pfad. Und ein Gespür für das richtige Wort zur richtigen Zeit.
Wohin führt der achtfache Weg? Buddhisten nennen es das Nirwana im Sanskrit oder Nibbana im Pali. Der Weg dorthin kann einsam und beschwerlich sein, zumal es keinen Erlöser gibt, der uns die Last unserer Trägheit abnimmt. Jeder und jede ist selbst für den Lauf verantwortlich. Mit dem richtigen Partner ist manches einfacher, manches vielleicht auch schwieriger. Röbi folgte der Mahnung seiner Mame: Er soll Sorge tragen zu Ernst, diesem wertvollen Menschen. Röbi wehte mit zartem Wind durch sein eigenes Leben und durch seine Beziehungen mit Ernst und Giovanni. Er wirkte bescheiden, und er legte ein gesundes Selbstbewusstsein an den Tag: Er wollte als das wahrgenommen werden, was er war. Nun hat sich der Wind gelegt. Der Lauf ist vollendet. Es ist still geworden. In der Stille bleiben wir zurück, die Gemeinschaft der Freundinnen und Freunde von Röbi.