Würdigung

David Streiff: Hoffnungsvarianten, Schicksale

I have some rights of memory in this kingdom

Fortinbras in Shakespeare's Hamlet, 5. Akt, 2. Szene

Diese erstaunliche Website ist das Resultat einer jahrzehntelangen geduldigen und engagierten Aufarbeitung. Die Ausstellung "unverschämt - Lesben und Schwule gestern und heute" im Stadthaus Zürich 2002 hatte anschaulich gemacht, um was es Ernst Ostertag, seinem Lebensgefährten Röbi Rapp und den Veranstalterinnen und Veranstaltern ging: an Einzelschicksalen aufzuzeigen, welche Etappen die Emanzipation einer Minderheit und deren Kampf um Anerkennung und Gleichberechtigung durchlaufen hat. Bei der Erarbeitung dieser Ausstellung spielte der neun Jahre vorher (1993) gegründete Verein Schwulenarchiv Schweiz (sas) eine entscheidende Rolle. Mit dessen Integration ins Schweizerische Sozialarchiv hat das sas eine starke institutionelle Basis auf gesamtschweizerischer Ebene, Professionalität und Kontinuität bekommen. Was die beiden Autoren der Website und andere Zeitzeugen zusammentrugen, ist nun im sas greifbar - auch für künftige Generationen von Forscherinnen und Forschern.

Das vorliegende Werk ist weit mehr als ein nachgeholter Katalog der damaligen Ausstellung. Die Fülle der darin vorkommenden Personen und ihrer Schicksale macht daraus eine erstrangige Fundgrube für alle interessierten Leserinnen und Leser. Für den Historiker ist es eine reichhaltige und wegen ihres Themas spezielle Quellensammlung zur Sozialgeschichte der Schweiz, für den Medienkundler spannendes Anschauungsmaterial. Dem schwulen Leser hingegen erschliesst es zusätzlich und in reichem Masse vergessene und unbekannte Kapitel seiner eigenen Geschichte.

Die Ausstellung war geprägt von einem Gleichgewicht zwischen schwulen und lesbischen Lebensgeschichten. Die Website widmet sich nun fast ausschliesslich der schwulen Thematik - aus der Archivsituation heraus - aber auch, weil die Autoren hoffen, eines Tages widme sich eine Historikerin in vergleichbarer Weise der Geschichte der lesbischen Emanzipation.

Ihr Antrieb zum jahrzehntelangen aktiven Sichern, Erschliessen und Exzerpieren von Quellenmaterial kommt aus dem eigenen Erleben. Von der Bedeutung der Geschichte fürs Verständnis der Gegenwart zutiefst überzeugt, legen sie den Fokus auf das Thema, das für sie existentiell war und blieb: die Utopie eines selbstbestimmten und würdevollen schwulen Lebens, dem die Gesellschaft nicht nur mit Toleranz, sondern mit voller Akzeptanz begegnet.

"Dass im Menschen drin Kräfte vorhanden sind, die ihn über schwierige, widrige Umstände und Mitmenschen hinaustragen, das ist die frohe Botschaft, die aus dieser Website herauskommt und - so hoffen wir - Lesern und Besuchern aus allen Herkünften und Hintergründen ein Lichtlein anzündet. Wir spielen dabei nur ein bisschen Medium, mehr nicht".

Ernst Ostertags Texte kombinieren in loser Form Zusammengetragenes und Erlebtes. Er ist bewusst zurückhaltend, wo er zitiert, bewusst persönlich, wo er von Erlebtem berichtet. Das macht das Ungewöhnliche dieser geschichtlichen Zusammenstellung aus, vielleicht auch die gelegentliche Irritation des Lesers, wenn der Ton plötzlich von der nüchternen Wiedergabe von Protokollen zum anklagenden oder aufklärerischen Manifest wechselt (zum Beispiel wenn es um die Rolle der Kirche geht).

Das Tabu der Homosexualität hat dazu geführt, dass viele Quellen unterdrückt, vernichtet oder zensuriert worden sind. Umso erstaunlicher, wie viele Dokumente Ernst Ostertag hier ans Licht hat ziehen können: Texte, die etwas preisgeben über die Befindlichkeit von Menschen, die sich zum gleichen Geschlecht hingezogen fühlten, und welche die Not anschaulich machen, nicht so leben zu dürfen, wie man im Innersten fühlt.

In ihrer Summe macht die Website die Meilensteine fest, welche die lange und von vielen Rückschlägen begleitete Geschichte der schwulen Emanzipation am Beispiel der Schweiz ausmachen. Den Aktiven von der Zeit nach Stonewall gibt die Lektüre Genugtuung, etwas erreicht zu haben. Der heterosexuellen Mehrheit, die nichts oder wenig davon wusste oder wissen wollte, gibt sie Anschauung und Aufklärung. Den Jungen gibt sie Mut. Sie werden aber auch daraus lernen, dass ein offen gelebtes schwules Leben keineswegs selbstverständlich ist.

Unser Privileg, in einer Zeit und einer Gesellschaft leben zu können, in der Schwule und Lesben zu ihren Gefühlen stehen dürfen, in der das Partnerschaftsgesetz in einer Volksabstimmung angenommen worden ist, dieses Privileg ist neu - und es kommt für unendlich viele Menschen früherer Generationen zu spät. Natürlich ist das Coming-out auch heute noch für jeden und jede ein schwieriger, oft dramatischer Schritt, aber er ist hierzulande möglich geworden.

Anders gesagt: alle, die heute zu ihren Gefühlen stehen dürfen, ohne ausgegrenzt oder umgebracht zu werden (was in vielen Ländern dieser Erde auch heute noch geschieht!) verdanken dies den vielen Mutigen, von denen diese Website berichtet. Dem Andenken dieser Pioniere, ob sie nun erfolgreich waren oder gescheitert sind, ist - nicht explizit, aber vom Geist her, der es beseelt - diese Website gewidmet; das Recht auf Erinnerung, dieses "niemals vergessen" ist der Kern der bewundernswerten Kärrner- und Detektivarbeit, welcher sich die beiden Autoren über so lange Jahre mit grosser Hingabe verschrieben haben.

David Streiff, Mai 2009

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