Newsletter 107
November 2018
Diese Ausgabe enthält folgende Themen:
- Eduard Krumm und die Flucht aus Deutschland
- Abschiedsfeier von Röbi Rapp vom 27. Oktober 2018
Eduard Krumm und die Flucht aus Deutschland
eos. Eduard Krumm (1927-2008) floh als 25-Jähriger aus der BRD in die Schweiz, um der Verhaftung zu entgehen. Das war 1952. Selbst sieben Jahre nach Hitler und Kriegsende gab es den von den Nazis verschärften §175 noch immer. Und ehemalige Nazi-Richter waren weiterhin tätig, vor allem in kleineren Städten und Ortschaften. Je nach persönlicher Anwendung des Rechts verfolgten sie Schwule gnadenlos oder sie konzentrierten sich nur auf klare Fälle. Eduard Krumm war nicht der einzige Schutzsuchende, der über die Grenze kam, es gab viele andere. Aber er war einer der wenigen, die davon berichteten. Vor zehn Jahren verstummte seine Stimme. Wir möchten die Erinnerung an ihn bewahren und dabei alle anderen, die unbekannt blieben, mit einbeziehen.
1950 fand sich in der schwäbischen Kreisstadt Reutlingen - sie liegt etwa 30 Kilometer südlich von Stuttgart - eine kleine verschwiegene Gruppe von Schwulen - darunter Eduard Krumm - zusammen. Sie waren fast alle Abonnenten des Kreis. Die Zeitschrift bezogen sie in neutralem Briefumschlag über die Buchhandlung "Bücherstube Konstanz" von Fritz Scheffelt. Sie lag nahe der Grenze bei Kreuzlingen. In Anlehnung an den KREIS nannten sie sich "Kameradschaft die runde" und wählten ein dreieckiges Signet mit der Flamme des KREIS darin und dem lateinischen Spruch "suum cuique", der auf Deutsch als "Jedem das Seine" über dem Tor zum Todeslager Buchenwald bei Weimar stand, in dem die Nazis auch viele Schwule ermordeten. Der §175 bestand unverändert bis 1969 und bedeutete nun nicht mehr Todesstrafe, wohl aber Verfolgung, Gefängnis, Existenzverlust. In diesen 24 Jahren nach Kriegsende wurden durch die Anwendung des Paragraphen mehr Homosexuelle verfolgt als während der 12-jährigen Diktatur. Ziel der "runde" war die Abschaffung des §175. Nach 1969 löste sie sich auf.
Während der Repression in Zürich, nachdem der KREIS sein Lokal verloren hatte und immer wieder neue Räume für bescheidene festliche Zusammenkünfte mit Musik, Tanz und Theater oder Cabaret suchen musste, kam es im Dezember 1965 sogar soweit, dass die traditionelle Weihnachtsfeier nach Stuttgart verlegt und mit den Kameraden der "runde" gemeinsam durchgeführt wurde: Die Lage in Zürich zwang den KREIS ins Exil nach Deutschland – trotz dortigem §175!
In Stuttgart trafen wir, Röbi und ich, auch erstmals mit Eduard Krumm zusammen. Allerdings war das drei Jahre zuvor, am 21. September 1963, bei einem der "Freundschaftstreffen" von KREIS und "runde", die regelmässig in Zürich und Stuttgart oder an anderen Orten stattfanden. Die KREIS-Leitung hatte auch uns beide zu diesem Anlass eingeladen und wir flogen alle mit der Swissair nach Stuttgart, wo wir auch übernachteten. Gleich am Anfang des Abends - wir trafen uns im Saal eines Gasthauses - fiel uns ein stiller, gross gewachsener Mann auf, Richard Moosdorf, mit dem wir ins Gespräch kamen. Auch er war zum ersten Mal unter den "runde"-Kameraden und fühlte sich etwas isoliert. Wir merkten, dass Zurückhaltung sein Naturell war, dahinter aber, das erfuhren wir im Lauf des Abends, verbarg sich eine vielseitige, geistvolle Persönlichkeit. Er war sechs Jahre älter als wir, bei Kriegsausbruch also schon 15-jährig. Beieinander am Tisch sitzend wagten wir deshalb die Frage, die uns umtrieb, die Frage nach der Nazi-Diktatur und wie er diese Zeit überlebt habe. So erfuhren wir von seiner überall, auch in der eigenen Familie konsequent verheimlichten "Besonderheit", wie er es nannte, und dass er schon als 13-Jähriger wusste, was ein "Auffliegen" ausgelöst hätte. Dennoch sei er ab und an, wenn die erwachende Lust stärker wurde als alles andere, in den Schlossgarten "auf die Jagd" gegangen und habe hie und da ein kurzes Treffen gehabt. Aber oft sei die Angst zu gross gewesen und er ging "leer" zurück. Nur mit einem kam es zu einer kurzen Freundschaft. Nie sei er geschnappt worden, er habe Glück gehabt. Das alles habe ihn sehr geprägt, noch heute sei er so korrekt und anständig wie möglich und immer vorsichtig. Zu späterer Stunde stellte er uns Eduard Krumm vor, sein Gegenteil, wie er sagte, ein fröhlich-gemütlicher, offener Mensch, sie seien gute Freunde.
Erst 29 Jahre später, 1982, begegneten wir uns wieder, diesmal mitten in Zürich. Der Berliner Filmemacher Jochen Hick hatte Röbi und mich gebeten, bei einer Sequenz seines neuen Projekts mitzumachen. Es sollte eine Doku-Geschichte über Schwule werden, die isoliert im süddeutschen Raum leben. Dabei ging es auch um vielfache Formen von Überwindung ihrer Isolation. Wir sagten zu und trafen beim Filmen unverhofft auf Richard Moosdorf und Eduard Krumm. Gemäss Drehbuch berichteten die beiden mit uns zusammen an diversen Orten der Stadt von der Zeit jener vergangenen Zusammenkünfte und auch von der Zuflucht im "so sicheren Schweizerland". In den freien Stunden erzählte vor allem Eduard einiges aus seinem bewegten Leben, von dem wir nichts wussten, etwa von den vielen Monaten, die er als §175-Flüchtling im Engadin verbrachte. Zur Arbeitsstelle dort hatte ihm der KREIS verholfen.
Der Film war unter dem Namen "Ich kenn' keinen - allein unter Heteros" sehr erfolgreich, und Richard Moosdorf avancierte darin zu einem echten "verborgenen Star". Wir besuchten die beiden danach einige Male in Stuttgart. Der Kontakt mit Richard blieb bis heute bestehen, er ist nun 94. Eduard Krumm lernte zur Zeit des Drehens einen jüngeren Mann kennen; sie zogen zusammen, doch bald wurde Eduard krank. Sein Freund pflegte ihn bis zum Ende.
Abschiedsfeier von Röbi Rapp vom 27. Oktober 2018
eos. Es regnete in Strömen, genau wie an unserem Hochzeitstag vor fünfzehn Jahren und genau wie damals traf man sich im Zürcher Stadthaus. Die Halle war bis zum letzten Platz besetzt. Giovanni Lanni hatte die Dekoration besorgt. Ballons in den sechs Farben der internationalen Flagge der schwul-lesbischen Community schmückten die Bogen über den Säulen, und auf der Bühne erschienen sie wieder und umrahmten den Namen RÖBI.
Corine Mauch, unsere Stadtpräsidentin, eröffnete den Anlass mit bewegenden und sehr persönlichen Worten. Das war schlicht grossartig und wunderbar zugleich.
Danach sang der schwule Männerchor Zürich (schmaz) und sofort war klar, in diesen nicht einfachen Liedern paarte sich Gesangskunst auf höchstem Niveau mit grosser Professionalität. Denn die Akustik der Halle ist schwierig, weshalb sich die erfahrenen Sänger unter ihrem Dirigenten Ernst Buscagne bereits vor dem Eintreffen des Publikums an Ort einsangen. Das zahlte sich aus. Es tönte vollkommen, auch in den schwierigen Passagen mit aufgeteiltem Chor, mit Solostimmen und mimischen Einlagen.
Die Moderation musste ich kurzfristig selbst übernehmen. Immerhin, so wurde sie etwas persönlich.
Josef Burri, Autor und Fachmann im Bereich Buddhismus und Südostasien, schilderte in der Hauptrede Röbis Leben, nicht chronologisch, sondern auf der Grundlage der Lehren des Buddha und konnte so wenig bekannte Linien und Aspekte in Röbis Werdegang und seiner geistigen Entwicklung hervorheben. Für viele war das vielleicht neu, aber der Redner fand die sprachlich nötige Klarheit und wies auf Röbis tibetischen Namen Karma Sherab wie auf das Mantra in der Todesanzeige hin.
Das Flötenduo Brita Ostertag und Philipp Bachofner überraschte zusammen mit der Cellistin Cécile Grüebler mit einem heiteren Zwischenspiel von Melodien aus Mozarts Don Giovanni anhand eines Arrangements aus dem Jahr 1818 und liess dieses kaum bekannte Stück zum musikalischen Erlebnis werden.
Mit seiner Schilderung des sich im Alter neu entwickelnden Talents von Röbi als Bühnen-Star gelang es Oliver Fritz, jenes Phänomen erfahrbar zu machen, das Röbis Künstlernatur zugrunde lag. Der Untergang des KREIS hatte zu einem jahrzehntelangem Schweigen geführt, doch mit 70 wollte Röbi noch einmal ins Rampenlicht treten und das Publikum mit den Feinheiten seiner Kunst verzaubern. Oliver war nun sein Pianist. Ohne ihn wäre der Neustart nicht gelungen. Und Oliver liess Röbi weit über sich selbst hinauswachsen. Das machte er uns in seiner Ansprache ganz nahe und ganz persönlich spürbar. Es waren die berührendsten Momente der Feierstunde.
Danach kam der schmaz und sang mit einem jazzigen Lied Rhythmus, Spass und Freude herbei, sodass Tobias Urech - Vorstandsmitglied der "Milchjugend" und zugleich ein Bühnentalent als Drag Queen namens Mona Gamie - es leicht hatte, vom letzten Auftritt Röbis zu erzählen, als die "alterslose Grande Dame" zusammen mit ihm, dem jungen Tobias am 5. Mai dieses Jahres auf jener Bühne performte, die auch die Bühne des KREIS war, nämlich im Theater am Neumarkt. Er enthüllte zum Schluss ein Foto-Bild, das Röbi zeigte, im weissen Frack Abschied vom Publikum nehmend, den Zylinder in der Hand.