Newsletter 112
April 2019
Diese Ausgabe enthält das folgende Thema:
- Vor 20 Jahren: Erste Ausstellung über den KREIS
Vor 20 Jahren: Erste Ausstellung über den KREIS
eos. Nein, es war nicht Zürich, sondern Berlin, das dortige Schwule Museum, das die zürcherische und schweizerische Organisation KREIS aus dem Halbdunkel einer Legende ins Licht der geschichtlichen Tatsachen holte. Die Ausstellung dauerte vom 21. April bis 25. Juli 1999. Zur Eröffnung war das Schweizer Fernsehen dabei und brachte einen sieben Minuten langen Bericht in der Nachrichtensendung "10vor10". Das weckte Interesse. Einigen gelang es, eine verkleinerte Form in die Schweiz zu bringen, wo sie während der EuroGames 2000 im Schweizerischen Nationalmuseum in Zürich gastierte.
Es war ein strahlender Frühlingstag, dieser Mittwoch, der 21. April 1999. Röbi Rapp und ich verliessen früh die Hotelbetten. Es war unser dritte Morgen in Berlin. An der Ausstellung wollten wir etwas vom Zauber der damaligen KREIS-Feste aufleben lassen und hatten ein Programm von Chansons und Cabaret-Nummern zusammengestellt. Die probten wir täglich in Nebenräumen des Schwulen Museums und an einer stillen Ecke im Tiergarten. Das ganze Programm war für den Freitagabend vorgesehen, doch zur Eröffnung wollte Röbi wenigstens einen Text und zwei Lieder vortragen. Also begannen wir im Zimmer mit einer finalen Probe. Röbi hatte die "Tiergartenballade" von Karl Meier / Rolf ausgewählt, einen Text, der während der Wirtschaftskrise um 1930 in Berlin entstanden ist und den Röbi am Herbstfest vom 3. Oktober 1959 unter Rolfs Regie erstmals auf die KREIS-Bühne gebracht hatte. Denn jenes Fest - es war das letzte des KREIS - war aus aktuellem Grund dem Thema "Stricher" gewidmet. Die Ballade handelt von einem Arbeitslosen, einem verzweifelten Strichjungen im dafür bekannten Tiergarten-Revier, der die verletzend herablassende Art eines wohlhabenden Kunden nicht länger erträgt und ihn erschiesst.
Um 13 Uhr war ein Treffen mit einem Team des Schweizer Fernsehens vor dem neu umgebauten Reichstag angesagt. Der Deutschland-Korrespondent Dölf Duttweiler und seine Kamera- und Tonleute waren pünktlich. Vor dem berühmten Gebäude standen Menschenschlangen, denn es war der erste Tag der "Offenen Reichstags-Tür". Ich sagte zu Röbi, "die Eröffnungsfeier ist um 17 Uhr und der Weg zum Schwulen Museum dauert, wenn wir hier hinten anstehen, schaffen wir das nie!" Doch Duttweiler hatte das gut organisiert. Flugs ging's an allen Wartenden vorbei treppauf zu einer sich öffnenden Türe. Wir folgten dem Beamten zum Lift und schon standen wir oben auf dem Dach, ganz ohne Durchsuchung, einfach so, wie echte VIP. Es grüsste die Kuppel gleissend im Licht. Doch Dölfs Regie hiess uns umdrehen. Da lag der Tiergarten vor uns in hellgrün frischer Blätterpracht.
Kurz vor Abflug in Zürich hatte mir eine Freundin ihre Filmkamera in die Hand gedrückt, "das wird einmalig, du musst alles festhalten, wir machen dann einen Film". Jetzt begann ich, erstmals im Leben, das ins Visier zu nehmen, was um mich geschah. Röbi wandelte sich zum Stricher und sprach seinen Text, aufgenommen von den Professionellen. Und ich, schräg daneben, dokumentierte so gut es gehen mochte. Das tat ich den ganzen Tag lang - und es ist ganz passabel geworden, schliesslich, nach dem Schneiden. Natürlich waren wir bald umringt von Zuschauern. Das brachte Röbi auf Hochtouren. Ich konnte nicht weiterfilmen. Ich musste für Dölf die Leute zurückhalten und um Ruhe bitten. Ohne die Kuppel oder den Saal betreten zu haben, verliessen wir danach den Reichstag. Zügig ging’s an den nächsten Drehort.
Etwas später sassen wir gemütlich in einem Kreuzberger Strassencafé und machten Pause. Dölf war recht gestresst, denn seine Frau erwarte die Geburt ihres ersten Kindes. "Und ich sitze hier fest, weil das welsche Fernsehen uns aufgescheucht hat. Was wisst ihr dazu?", fragte er uns. Da erinnerten wir uns an die Reportage eines Teams aus der Romandie, das war vor zwei Jahren.
Damals gab es in der Berliner Akademie der Künste eine Ausstellung mit dem Titel "Goodbye to Berlin? – 100 Jahre Schwulenbewegung". Im Vorfeld hatte Karl-Heinz Steinle vom Schwulen Museum viele Zeitzeugen in der Schweiz aufgesucht, auch uns. Für die Ausstellung suchte er geeignetes Material zum KREIS. Natürlich hatte Röbi einiges in seinem Fundus und wir beide wurden an die Eröffnung geladen. Sie fand am 17. Mai 1997 statt, in Erinnerung an den unseligen §175. Der Name war "Programm": er sollte an Christopher Isherwood's gleichlautenden Roman von 1939 erinnern, in dem er seinen Abschied von Berlin zehn Jahre zuvor schilderte, als die Stadt und ihr offenes Leben von Nazi-Horden verunsichert wurde und zu ersticken drohte. Das Fragezeichen war Sinnbild für das inzwischen wieder offene Berlin, aus dem keiner fliehen muss. Und 100 Jahre war es her, seit Magnus Hirschfeld 1897 die erste schwule Organisation weltweit, das Wissenschaftlich humanitäre Komitee gründete (1933 von den Nazis geschlossen und später zerstört).
Damals machte das Fernsehen der Romandie eine Reportage über den schweizerischen Teil der Ausstellung und wir hatten Erklärungen auf Französisch ins Mikrofon zu sprechen. Am Ende bemerkte die Teamleiterin, das deutschschweizerische Fernsehen würde die Aufnahmen übernehmen und bat uns, das Ganze auf Deutsch zu wiederholen. Viel später erfuhren wir, dass in der Deutschschweiz nichts gesendet worden war, weil es keinen Platz gab. Darauf meinte die Mitarbeiterin des französisch-schweizerischen Fernsehens, bei der nächsten Gelegenheit seien dann die Deutschschweizer an der Reihe. "Eh voilà, cher Dölf, drum seid ihr alle jetzt hier, nehmen wir mal an. Ihr müsst also, sozusagen als Entschuldigung gegenüber der welschen Kollegin und der Télévision de la Suisse romande, diese Reportage drehen und wir dürfen mitmachen; vielen Dank!"
Bei der Eröffnung der Ausstellung "DER KREIS: Mitglieder, Künstler, Autoren", für die Karl-Heinz Steinle als verantwortlicher Leiter zeichnete, filmte Dölf Duttweiler und sein Team die Reden der Ausstellungsmacher, den Rundgang durch die Exponate und das Aufleben der KREIS-Atmosphäre mit Röbis Texten und Chansons. Er hatte sich entsprechend verkleidet und verlängerte den Schlussapplaus mit Dreingaben - ganz so, wie er es 40 und mehr Jahre zuvor im Zürcher Neumarkt getan hatte.
Diesmal wurde der Bericht in der Deutschschweiz auch wirklich gesendet, im "10vor10". Dass dies für uns beide das eigentliche öffentliche Coming out war, merkten wir erst später, als wir - wieder zu Hause - die Reaktionen bekamen. Nicht nur positive. Die Negativen machten uns traurig. Noch immer gab es Menschen, die so eng dachten. In uns erwachte wieder jene Wut, die wir beim Ende des KREIS gefühlt hatten. Doch jetzt waren wir 69-jährige Rentner, ungebunden und frei. Wir starteten nun durch mit persönlichen Auftritten in aller Öffentlichkeit und wollten für Anerkennung und gleiche Rechte einstehen und überzeugen.
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