Newsletter 116

August 2019

Diese Ausgabe enthält das folgende Thema:

  • Lebensgefühl einer zerrissenen Generation: Tagebücher von Kurt Mettler

Lebensgefühl einer zerrissenen Generation: Tagebücher von Kurt Mettler

Kurt Mettler starb mit nur 25 Jahren - gerade, als er dachte, endlich alle Krisen überwunden zu haben und sich am Puls der von ihm enthusiastisch bejahten Moderne ins Leben stürzen zu können. Der promovierte Jurist stammte aus einer begüterten St. Galler Textilhandelsfamilie und war ambitionierter Autor, begabter Cellist und eifriger Kunstsammler. In Paris hatte er sich seit rund einem halben Jahr an vornehmster Adresse als Kunst­­händler etabliert, als er 1930 starb. Selbst innerhalb der eigenen Familie lastete ein Tabu auf diesem so viel versprechenden und dann so jäh abgebrochenen meteor­haften Leben - sein schlichtes Grab mit einem verwitterten Holzkreuz liegt in einem Wäldchen des abgelegenen familien­eigenen Ferienhauses im Appen­zel­lischen. Jetzt geben die Tagebücher von Kurt Mettler aus den Jahren 1927-1930, erschienen im Limmat Verlag Zürich, einen Einblick in sein Leben und in das Lebensgefühl einer zerrissenen Generation.

Der hochbegabte, empfindsame und scharfsinnige junge Mann, der Ende der 1920er Jahre um die Welt gereist war und dem jedermann eine brillante Zukunft voraussagte, hinterliess seiner schockierten Familie am Beginn der einsetzenden Welt­wirtschafts­­krise eine Galerie mit nur schlecht verkäuflichen Kunstwerken und verschiedene Manuskripte mit teils schwer verdaulichem Inhalt. Selbstzeugnisse und Familienüberlieferung lassen erahnen, wie tief die Angehörigen von dem unzeitigen Tod erschüttert wurden. Nicht minder gross war das Entsetzen über Kurt Mettlers unbürgerlich-verschwenderisches Leben und sein homosexuelles Begehren, wie sich dies im ersten grossen Tagebuch ankündigte und dann in seinen Pariser Tagebüchern offenbarte.

Begegnungen mit verschiedenen jungen Menschen während der Weltreise hatten seine aus dem Elternhaus übernommene puritanisch-enge Moral herausgefordert. Seine bislang verdrängte Homosexualität lernte er erst in Paris halbwegs akzeptieren. Aber eben nur halbwegs, so dass er die Chance, 1929 und 1930 in den beiden schwullesbischen Hotspots Paris und Berlin seine Sexualität befreit leben zu können, nicht nutzen konnte und wollte. Immerhin verliebte er sich nach langem Ringen in einen seiner Mitarbeiter, einen zwei Jahre älteren Franzosen. Doch wurde diese Beziehung von der Familie abgelehnt; vor allem sein Zwillingsbruder, mit dem Kurt Mettler zärtlich verbunden war, unternahm alles, um diese Liebe zu unterbinden.

Die in Buchform erschienenen Tagebücher sind einenteils das grosse Tagebuch, in dem Kurt Mettler seinen langen Aufenthalt in New York 1927 und seine Weltreise von 1927-1928 schildert und reflektiert, andernteils die drei kürzeren Tagebücher seiner Zeit als Kunsthändler in Paris 1929-1930. Mit grosser Intensität schildert Mettler das Lebensgefühl der "zerrissenen" jungen Generation zwischen den beiden Weltkriegen und sucht in den Bruchstellen zwischen Tradition und Moderne rastlos nach Glück, Erfüllung und Sinn.

Umfassend erschlossen werden die Tagebücher durch Einzel­stellen­erläuterungen, die das Verständnis wesentlich erhellen, einen brillanten biographischen Essay und ein ausführliches Personen­register aus der Feder des Herausgebers André Weibel.

schwulengeschichte.ch dankt David Streiff für diesen Beitrag.

Kurt Mettler Tagebücher 1927-1930, herausgegeben und kommentiert durch André Weibel, mit einem Vorwort von David Streiff  im Limmat Verlag erschienen.
1050 Seiten, 59 Franken.
Website des Limmatverlags