Newsletter 141

September 2021

Diese Ausgabe enthält folgende Themen:

  • "Es ist unglaublich, wieviel sich in so kurzer Zeit verändert hat" - Interview mit Ruth Genner

"Es ist unglaublich, wieviel sich in so kurzer Zeit verändert hat"

dbr. Vor 23 Jahren reichte die damalige grüne Nationalrätin Ruth Genner eine Parlamentarische Initiative ein. Sie hatte zum Ziel, eine rechtliche Regelung für die Ehe von gleichgeschlechtlichen Personen zu schaffen. Das war ein Vorläufer des Gesetzes der Ehe für alle, über das wir am 26. September abstimmen. Wie das damals war und warum es so lange gedauert hat, bis dieser Vorstoss nun umgesetzt werden soll, wollte Daniel Bruttin im Gespräch mit Ruth Genner erfahren.

Am 18. Dezember 1998, als die frischgebackene Nationalrätin Ruth Genner im Namen der grünen Fraktion eine Parlamentarische Initiative (PI) einreichte mit dem sperrigen Namen "Das schweizerische Zivilgesetzbuch (ZGB), das Bürgerrechtsgesetz (BüG) sowie die Zivilstandsverordnung (ZStV) seien so zu ändern, dass eine Ehe zwischen gleichgeschlechtlichen Paaren geregelt ist", war dieses Anliegen absolut utopisch. Das zumindest, ist die heutige Einschätzung von Ruth Genner:

"Diese Parlamentarische Intiative habe ich eingereicht, mit dem Wissen, dass sie kaum Chancen auf eine Mehrheit hat. Sie sollte als Alternative zur bereits eingereichten PI des Genfer LDP-Nationalrates Jean-Michel Gros über die "Registrierung der zusammenlebenden Paare" die Diskussion beleben, in der Hoffnung, dass die Auswahl zwischen einer moderaten und einer umfassenderen Lösung die Parlamentarier zum Handeln zwingt. Wenn Menschen zwischen einer radikalen und einer moderaten Lösung wählen müssen, dann haben sie, zumindest in der Schweiz, die Tendenz, wenigstens der moderaten Lösung zuzustimmen, um die radikale Variante zu verhindern. Sicher war mein Vorschlag der Zeit weit voraus, selbst Jean-Michel Gros, kam zu mir und fragte: "Est-ce que tu crois vraiment, que tu peux avoir des voix pour ça?". Er konnte sich wohl nicht vorstellen, dass dieses Anliegen in der gewählten, konsequenten Form eine Chance hatte. Tatsächlich enthält seine eigene Parlamentarische Initiative die Worte "Homosexuell" oder "Gleichgeschlechtlich" nicht. Es ist nur die Rede von "…zwei Personen, die ein dauerhaftes Zusammenleben beabsichtigen…", dies zumindest in der deutschen Übersetzung".

Die Absicht von Ruth Genner ging viel weiter, das vorgeschlagene Vorgehen war bestechend: Mit einer, wie sie es nannte, "sanften sprachlichen Überarbeitung" sollten die Texte der drei erwähnten Gesetze so angepasst werden, dass sie auf Menschen beider Geschlechter angewendet werden könnten.

Weiter schrieb sie in ihrer Begründung:

"Auch ist die geschlechtsneutrale Ausgestaltung des gesamten ZGB wegen der Adoptionsmöglichkeit für gleichgeschlechtliche Paare notwendig."

Dahinter versteckte sich eine weitere Absicht: Gleichzeitig sollte die Diskriminierung von Frauen, wie sie im Text über weite Teile vorkam, ausgemerzt werden.

Ruth Genner meinte in der Debatte im Nationalrat:

"Das erfordert im Übrigen zwingend die geschlechtsneutrale Ausgestaltung weiter Teile des Zivilgesetzbuches und verwirklicht daher auch das Postulat der sprachlichen Gleichstellung von Frauen mit Männern."

Auf meine Frage, warum gerade sie diese PI einreichte, sagt Ruth Genner:

"Das Thema wurde aus Schwulenkreisen an mich herangetragen. Ich habe sofort verstanden, dass hier Handlungsbedarf besteht, denn ich sah die Parallelen zur Geschichte der Frauen, die mich ja selbst betraf. Mit 15 Jahren habe ich erlebt, wie meine Mutter das Frauenstimmrecht erhielt. Damals gab es für Frauen neben den fehlenden politischen Rechten sehr viele Diskriminierungen, Frauen durften nicht selbst bestimmen, ob sie arbeiten wollen, konnten kein Bankkonto eröffnen und vieles mehr. Sie erhielten zwar 1971 das Stimmrecht und wurden damit den Männern politisch gleichgestellt. Aber waren sie auch gleichberechtigt? Nein, es war und ist immer noch ein gesellschaftlicher Wandel nötig. Diesen braucht es ebenso, wie die Anpassung der Gesetze. Beides bedingt einander und geht Hand in Hand.

Sehr beeindruckt hat mich damals der katholische Frauenbund. Dieser hat in Bezug auf die registrierte Partnerschaft die einfachste Formel gefunden. Die Frauen sagten: Wir sind Mütter, Tanten, Gotten auch von homosexuellen Kindern und wir wollen, dass alle unsere Kinder glücklich sind. Punkt. Darum geht es, es ist so einfach. Der katholische Frauenbund hat 2004 zu Recht den Stonewall Award erhalten für sein Engagement.

Junge Menschen können sich heute gar nicht vorstellen, dass Homosexualität Ende des letzten Jahrhunderts in der Öffentlichkeit kaum ein Thema war. Die Schwulen wurden wahrgenommen. Pink Cross forderte Rechte, das habe ich gewusst. Aber zum Beispiel lesbische Organisationen waren nur ganz zart und schwach zu hören. Ich selbst habe damals kaum gewusst, dass neben den Schwulen und den Lesben noch viele andere LGBTIQ-Facetten bestehen. Die Tatsache zum Beispiel, dass kleine Kinder mit nicht klar ausgeprägten Geschlechtsmerkmalen schon sehr früh, ohne sie zu befragen, operiert und auf ein bestimmtes Geschlecht festgelegt wurden, war mir nicht bekannt. Auch die Existenz und die vielen Facetten von Regenbogenfamilien wurde erst in den letzten Jahren sichtbar.

Es half, dass die Medien je länger je mehr darüber berichten, welche Gruppierungen es gibt und wie sie leben. Es gibt wohl viele homosexuelle Journalisten, die auf die Thematik sensibilisiert sind und das Thema platzieren können. Dass mehr über die Thematik bekannt wird und man darüber spricht, hat mit der wachsenden Akzeptanz zu tun und damit, dass Diversity zunehmend an Bedeutung gewinnt. Wir dürfen nicht vergessen, dass diese Entwicklung noch längst nicht überall auf der Welt stattgefunden hat. Es gibt viele unterdrückte Menschen und nach wie vor werden Versuche unternommen, gewonnene Freiheiten mit Gerichten oder geänderten Gesetzen rückgängig zu machen. Auch hier sehe ich Parallelen zur Emanzipationsbewegung der Frauen.

Wenn die Abstimmung "Ehe für alle" gewonnen wird, wovon ich ausgehe, wird es weiterhin Menschen geben, die ihre Ablehnung zeigen, es wird Beschimpfungen geben. Aber es hilft, wenn Gesetze da sind, die die Rechte von queeren Menschen schützen und die Existenz rechtlicher Grundlagen kann auch Menschen überzeugen, die unsicher sind, was sie über andere Lebensformen denken sollen."

1998 hat Ruth Genner ihre Initiative unter anderem damit begründet, dass es darum geht, die Menschenrechte zu achten. Artikel 16 der Erklärung der Menschenrechte gibt allen heiratsfähigen Frauen und Männern das Recht, zu heiraten und eine Familie zu gründen. Dieses Recht ist nicht auf die heterosexuelle Ehe und Familie festgelegt, sondern offen formuliert: "Heiratsfähige Männer und Frauen haben ohne jede Beschränkung auf Grund der Rasse, der Staatsangehörigkeit oder der Religion das Recht, zu heiraten und eine Familie zu gründen."

Schon die Befürworter der eingetragenen Partnerschaft argumentierten mit den Menschenrechten, wie es auch heute wieder die Befürworter der Ehe für alle tun. Die Gegner führen dagegen ethische, religiöse und biologische Gründe zur rein gegengeschlechtlichen Ehe an.

Ruth Genner dazu:

"Diese Begründung ist nach wie vor eine wichtige. Wir erfüllen die Erklärung der Menschenrechte nicht, die wir doch ratifiziert haben, wenn wir nicht allen das Recht zu heiraten zugestehen."

Ich frage Ruth Genner, warum damals diese Parlamentarische Initiative so schnell erledigt wurde.

"Die Parlamentarische Initiative ist ein einfaches Mittel, um Diskussionsprozesse anzuregen. Sie kann unkompliziert eingereicht werden, wird von der entsprechenden Kommission beurteilt und wenn sie dann bei der Behandlung im Parlament eine Mehrheit findet, muss die Kommission eine Lösung suchen. Fällt sie aber in der Abstimmung durch, ist sie auch sofort erledigt."

Ruth Genners Parlamentarische Initiative wurde im Nationalrat mit 46 Ja zu 117 Nein abgelehnt und galt damit als erledigt. Befürworter wie Gegner fanden, dass Diskriminierungen bestehen und dringend etwas unternommen werden müsse. Trotzdem, die Ersatz-Lösung der Eingetragenen Partnerschaft wurde erst 2007 Realität.

Ruth Genner meint:

"Obwohl diese Dringlichkeit von allen gesehen wurde, dauerte es noch sehr lange, bis endlich ein Institut geschaffen wurde, das homosexuellen Paaren Rechtssicherheit bot. Nur Genf und Zürich schufen früher eine kantonale Lösung, die diesen Missstand beseitigte. Von 1998 bis 2007 war das nochmals eine lange Durststrecke für die Betroffenen."

Was hat sich denn in der Bevölkerung geändert?

"In der Zwischenzeit gab es viel Öffentlichkeit wie Demos, den CSD und später die Pride, an denen medienwirksam Forderungen gestellt wurden. Damit drang die Notwendigkeit einer Veränderung auch ins Bewusstsein der breiten Bevölkerung. Das hat sicher geholfen. Daneben entstand eine Diskussion über "Diversity", ein Konzept, das zum Beispiel in Firmen das Bewusstsein vergrösserte, dass die Produktivität, die Zufriedenheit der Angestellten und nicht zuletzt das Ansehen der Firma steigt, wenn Mitarbeitende sich mit ihren Eigenarten und ihrer Persönlichkeit einbringen können. Auch dieses Thema haben besonders Frauen aufgebracht.

Dass sich in den letzten Jahren viel verändert hat, sieht man auch daran, dass heute kaum mehr Tabus bestehen, was zum Beispiel die Kinderfrage betrifft. Im Vorfeld der Abstimmung zum Partnerschaftsgesetz war man sehr darauf bedacht, auf keinen Fall das Kinderthema einzubringen. Damit hätte man schnell "das Fueder überlade". Jetzt hat das Parlament die Samenspende für Frauenpaare kontrovers diskutiert, dann aber in die Vorlage aufgenommen. Es wird zwar immer Menschen geben, die schimpfen und dagegen sind, aber wir können doch davon ausgehen, dass die Abstimmung zu gewinnen ist.

Diese Geschichte zeigt, dass es in der Schweiz immer viel Zeit braucht, um ein politisches Ziel zu erreichen, und dass dies nur gelingen kann, wenn parallel dazu ein gesellschaftlicher Wandel geschieht. Das Beispiel zeigt jedoch eindrücklich, dass es sich lohnt, sich für diesen gesellschaftlichen Wandel zu engagieren."

Ein solches Engagement erfordert einen langen Schnauf. Die Frage der Rechte von gleichgeschlechtlichen Partnerschaften wurde schon lange vorher diskutiert. Das begann 1991, also vor 30 Jahren.

Nachzulesen auf schwulengeschichte.ch
Hier finden Sie mehr Informationen zur Haltung des Katholischen Frauenbundes
Zum Konzept der Diversity in Unternehmen: Arbeitswelt: Negatives
Weitere Informationen zu Ruth Genner auf Wikipedia