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Mein Banknachbar war Deutscher. Eigentlich wollte ich ihn hassen. Aber ich mochte ihn. Mehr als alle anderen Schulkameraden. Ich lernte seine Familie kennen, gute Leute, auch wenn ich beim Betreten der Wohnung erstarrte. Übergross im Zimmer ein Portrait des "Subjekts", wie Vater ihn - Adolf Hitler - nannte, geschmückt mit Hakenkreuzfähnchen. Einmal nahm mich die Familie mit an den Waldrand hinauf. Dort, beim Restaurant "Grünwald", sei ein deutsches Kulturhaus und sie würden ein Fest feiern. Viele Leute und die verhassten Fahnen in allen Räumen. Ich hörte unseren Dialekt, ziemlich oft. Also nicht nur Deutsche. Das verstand ich nicht. Warum? Und Vater war wieder im Dienst.

Plötzlich hatte ich einen Plan. Am freien Nachmittag fuhr ich zur oberen Bahnhofstrasse und stand dort vor dem britischen Konsulat. Sollte ich? Doch, ich ging hinauf und läutete an der Tür im ersten Stock. Ich erzählte, was ich wusste und was mich bedrückte und ging mit einem Auftrag nach Hause. Wieder war ich ruhig. Es gab etwas zu tun. Die gute Familie nahm mich noch ein paar Mal mit ins Kulturhaus und ich hörte genau hin, bevor wir Kinder im grossen Garten spielen gingen. Auch dort merkte ich mir die Namen, vor allem der Schweizer. Danach erfolgte die Berichterstattung auf dem Konsulat.

Nun erhielt ich (bis Kriegsende) ein Nachrichtenblatt, regelmässig, in neutralem Umschlag. (Wie später den Kreis, unauffällig.) Da standen andere Dinge, illustriert mit anderen Bildern als in der NZZ. Sehr spannend. Bis zum Sommer 1942, als ein Bericht über Auschwitz erschien. Mit Bildern, "erhalten vom polnischen Widerstand". Ich, damals 12jährig, las ihn mehrmals, fassungslos. Dann zerriss ich das Heftchen in kleine Stücke, warf sie in die Toilette und spülte. Aber jedes Detail blieb zurück, messerscharf eingeritzt. Das war viel schlimmer als Schmerz und Weinen. Es zerbrach etwas tief innen. Ganz geworden ist es nie mehr.

Zum Zerbrochenen gehörte auch der Glaube an Gott, wie er mir von Eltern, Schule, von Respektspersonen vermittelt worden war. Wo war dieser Gott? Wo er jetzt, wie in Sodom und Gomorra hätte rächen müssen? Hier ging es doch um sein "auserwähltes Volk".

Die Wahrheit musst du selber finden. Wieder hatte ich ein Geheimnis - zuerst war es nur das Heftchen, jetzt aber war etwas Bleischweres, etwas Verstörendes dazugekommen.

Ernst Ostertag, Oktober 2008