Krieg

An Weihnachten 1939 - wir wohnten jetzt im Quartier Zürich-Höngg - kam Vater aus dem Aktivdienst zurück. Für kurze Tage. Mein Bruder war jetzt gut sieben, ich fast zehn Jahre, das Schwesterchen einen Monat alt.

Am folgenden Tag nahm er mich an die Hand. Wir gingen durch den Rebberg zur Höngger Brücke hinunter. Von dort wies er auf unser Haus. Wie ein Turm stand es über den Reben, und Vater erklärte, dass die zweite Linie unserer Armee bei einem deutschen Angriff hier an der Limmat sein werde. Er musste es wissen, er war Nachrichten-Offizier. Im Frühling könne es dazu kommen. Er werde rechtzeitig anrufen. Dann müsste ich die Familie rasch über die Brücke führen, sie werde gesprengt. Das Haus würde auch zerstört. Nun gingen wir quer übers Limmattal nach Altstetten ("Achtung Tiefflieger, immer Deckung im Auge haben, sofort abliegen!"), dann den Wald hoch bis Ringlikon am Üetliberg, wo er ins Reppischtal hinunter wies. Erst dort, möglichst im Wald, seien wir sicher. Wir müssten aber weiter und den Weg bis gegen Einsiedeln erfragen, bei Bauern nächtigen. Mutter wisse das, sie habe Geld.

Im Frühling erwartete ich Vaters Stimme. Ich hatte Angst und war zugleich ruhig. Ich wusste, was zu tun war. Es wurde Mai und die Deutschen überfielen Holland und Belgien. Wieder hatten die Teufel zugeschlagen, ohne Kriegserklärung, mitten im Frieden, Rotterdam mit Brandbomben in ein Flammenmeer gestürzt, Tausende tot, ohne Chance. Und Vater schwieg. Kein Anruf. Es wurde ein bedrückender Sommer. Wir waren nicht mehr in der Schusslinie, aber eingeschlossen.

Vater hatte Urlaub. Was ist ein Réduit? Ich verstand die Idee von der Alpenfestung und dem möglichst hohen Preis für den Angreifer. Es war unsere einzige Chance, dem Schicksal Hollands zu entkommen. Vater war streng "neutral".

"Bewaffnet, aber neutral, so können wir vielleicht überleben",

sagte er und wies mich an, nicht nur Meldungen aus London zu lesen, sondern auch das, was Berlin berichte. Alle lügen, die Wahrheit musst du selber finden, irgendwo dazwischen.

Ernst Ostertag, Oktober 2008