1922-1938

Weg zur Selbstbestimmung

Es war ein langer und mühsamer Weg zu gehen, bis aus angstbeladenem heimlichem Tun die Erkenntnis wuchs, dass es kein sinnverwirrtes rasches Abreagieren sein konnte, das den Mann zum anderen Mann hinzog, sondern ein den ganzen Menschen erfassendes und den ganzen Menschen erfüllendes Streben, Empfinden, Denken.

Das haben Vereinzelte erfahren und davon berichtet, meist schmerzerfüllt, meist fragend "warum muss gerade ich so fühlen?" - ohne Antwort zu finden.

Andere suchten nach Gleichgesinnten und fanden sie bei den alten Griechen, fanden dort auch eine Kultur der Akzeptanz und begannen dafür zu kämpfen, dass diese Akzeptanz jetzt und hier neu aufleben solle. Sie sahen sich als eigenständiges "drittes Geschlecht" mit der gleichen Daseinsberechtigung wie die beiden anderen.

Aus ihrem Forschen und Veröffentlichen dessen, was sie in wissenschaftlich einwandfreier Arbeit erkannt hatten, entwickelte sich das Selbstverständnis, ja das Selbstwerden des Homosexuellen als eigene Spezies, unabhängig von bisherigen Beurteilungen moralischer, gesetzlicher oder medizinischer Art.

Nun konnte mit Gründungen homosexueller Gruppierungen, homosexueller Zeitschriften, einschlägiger Literatur, Kunst und Fotografie begonnen werden. Fernziel war die gesellschaftliche Gleichstellung.

Der lange Weg dieses Geschehens in Beispielen, in der Geschichte erster Gruppierungen in der Schweiz und beim Entstehen des Eidgenössischen Strafgesetzes bildet den Inhalt der nun folgenden Kapitel des Teils 2.

Die erste gesamtschweizerische Gruppe wurde 1922 in Luzern gegründet. Daher gilt diese Jahreszahl als Beginn der aktiven Homosexuellen-Emanzipation in der Schweiz.

Ernst Ostertag, September 2010