1963

Aufklärung!

"Versuch einer Frau" setzte die Redaktion 1963 über Betrachtungen von "E.W." zur stets aktuellen und immer wieder neu zu stellenden Frage1:

"Wie macht man Laien die Homosexualität verständlich?

Aufklärung über Homosexualität ist dringend notwendig und zugleich fast aussichtslos. Unserem Anliegen sind die meisten Publikationsorgane verschlossen; allzu gleichgültig bleibt die Berufsmedizin und die allgemeine Öffentlichkeit verharrt taub und einsichtslos in Vorurteilen. [...]

Die erste Aufklärung 'normal' Veranlagter sollte von medizinischer Seite her unternommen werden. Hier scheitern wir schon an dem kleinen Wort 'normal'. [...] Zur Aufklärung über Homosexualität fehlt bei Menschen, die nicht selber homosexuell sind oder einer gebildeten Schicht angehören, meistens jegliche Grundlage. [...]

Liebe nimmt ihren Ursprung im seelisch Gefühlsmässigen. [...] Wo liegt der Ursprung der Liebe zum eigenen Geschlecht, die weder Verbrechen noch Krankheit ist? Ich glaube annehmen zu dürfen: es gibt auch hier verschiedene Ausgangspunkte.

Der Mensch ist allerorts Produkt von Charakter und Umgebung. [...] Homosexualität resultiert aus Veranlagung. [...] Wo es sich um Erwachsene handelt, die beim eigenen Geschlecht liebend glücklicher werden, ist das alberne Märchen vom 'Verdorben werden' nicht stichhaltig. [...]

Nun empfinden wir, die wir [...] jede 'normale' Sexualität theoretisch verstehen, oftmals sogar aus Früherlebnissen praktisch kennen, die Grenzen weniger empfindlich als die Nichtwissenden. Wir haben im Geist das gesamte Weltbild, erfassen Männliches und Weibliches gleichermassen. Somit muss die höhere Toleranz, der erste Schritt zu einer Verständigung, von unserer Seite kommen. [...]

Nur durch das Beispiel kann man Menschen erziehen. Der Wissenschaft aber erwächst die akute Aufgabe, auch hier zu forschen, und zwar kompromisslos gerecht. [...] Homosexualität muss kein Fluch [...] sein, sie kann sogar Gewinn einer aufgeklärten Menschheit werden."

Ernst Ostertag, Juni 2006

Quellenverweise
1

Der Kreis, Nr. 4/1963, Seite 9