Antonio Santos, Coimbra

Fragen ohne Antworten - Zeugnis einer dunklen Zeit

Möglicherweise war "Antonio Santos" gar nicht sein richtiger Name, sondern ein Pseudonym, das er nur benutzte, wenn er für den Kreis arbeitete. Doch ist es untypisch für einen Künstler, sich einen Namen zuzulegen, der in seinem Heimatland Portugal so häufig ist wie etwa "Peter Müller" im deutschen Sprachraum. In der Kunst geht es ums Zeigen, nicht ums Verbergen. Ein Künstler möchte erkannt und nicht verwechselt werden, selbst wenn er anonym oder pseudonym bleibt. Und dass Santos ein Künstler war, belegen sowohl seine Zeichnungen als auch der Umstand, dass der Kreis seine Werke käuflich erwarb. Oder war António Santos (der Vorname schreibt sich im Portugiesischen eigentlich mit Akzent) gar kein Portugiese - und auch der bei seiner Namensnennung nahezu konsequent mitgelieferte Verweis auf die Stadt Coimbra nur eine Konstruktion? Bis heute hat sich nicht ermitteln lassen, wer sich hinter dem Namen "Antonio Santos, Coimbra" verbarg.1 Mehrere seiner Werke - Zeichnungen, Fotografien und Texte - kamen im Kreis zum Abdruck, und sie sollen hier zum Ausgangspunkt genommen werden, um ein paar Fragen zur Identität Santos' und zum Hintergrund und Entstehungsprozess seiner Arbeiten zu stellen. Möglicherweise bilden sie ja die Grundlage für Antworten, die später einmal geliefert werden können.

Die erste Illustration Antonio Santos' im Kreis erschien 1952, die letzte 1963. Doch ist dies kein Beleg dafür, dass Santos über zehn Jahre in Kontakt mit dem Kreis stand. Vielmehr wurden viele Abbildungen - und manche Texte - in der Zeitschrift aus finanziellen Gründen mehrfach verwendet, insbesondere, wenn frühere Ausgaben bereits vergriffen oder vergessen waren. Wie der Kontakt zwischen Santos und dem Kreis zustande gekommen war, ist nicht bekannt. Da Karl Meier / Rolf bei der Auflösung des Kreis Ende 1967 statutengemäss seine gesamte Korrespondenz verbrannt hat, finden sich im Schwulenarchiv Schweiz (Schweizerisches Sozialarchiv Zürich) keine Dokumente mit einer näheren Adressangabe und weiterführenden Informationen zu Santos. Erhalten haben sich hier aber vierzehn Originalzeichnungen des Künstlers, die auf der Rückseite mit Preisangaben versehen sind. Die Preise bewegen sich zwischen 10 und 40 Franken. Hatte Santos um 1952 eine besondere Beziehung zur Schweiz? Kannte er Rolf oder Eugen Laubacher / Charles Welti persönlich, oder arbeitete er seinerzeit auch für andere Zeitschriften für Homosexuelle? Zu denken wäre etwa an die dänische Zeitschrift Vennen (Der Freund) oder Der Weg in Deutschland. Wohnte Santos damals überhaupt in Coimbra, oder handelte es sich bei der portugiesischen Stadt lediglich um seinen Geburts- oder früheren Wohnort, und Santos war längst naturalisierter Schweizer? Wenn nicht, wie frei und unbehindert war eigentlich der Post- und Devisenverkehr zwischen der Schweiz und Portugal damals?

Die Universitätsstadt Coimbra, etwa 200 km nördlich von Lissabon gelegen, zählte in den 1950er Jahren weniger als 100’000 Einwohner. Sie war die wirtschaftlich und kulturell führende Stadt der portugiesischen Região Centro (Region Mitte). Doch war Portugal zu jener Zeit eine autoritäre Diktatur, die sich selbst Estado Novo (Neuer Staat) nannte. Im Lissaboner Parlament gab es nur eine Partei, die União Nacional (Nationale Union, UN). Oppositionelle wurden von der 1933 gegründeten geheimen Staatspolizei (PIDE) verfolgt, in Gefängnisse gesteckt, ermordet oder mundtot gemacht. Der Estado Novo betonte traditionell-katholische Werte. Literarische Werke, die Sexualität ausserhalb der Ehe thematisierten, wurden zensiert und verboten, ihre Verfasser kriminalisiert. Schwer vorstellbar, dass ein homosexueller Portugiese mittleren Alters, der offenbar Deutsch beherrschte, künstlerische Ambitionen hegte, finanziell besser gestellt und intellektuell war, um 1950 den Kontakt mit einer Zeitschrift für Homosexuelle in der Schweiz suchte und dabei freimütig Angaben zu seinem Namen und Wohnort veröffentlichen liess.

Im 20. Jahrhundert verliessen viele Portugiesen ihr Heimatland. Ging die erste Auswanderungswelle nach Nordamerika, blieben später die meisten portugiesischen Emigranten in Europa. Sie zogen nach Frankreich, Deutschland und in die Schweiz. Allerdings waren typische Auswanderer von der Arbeitslosigkeit bedrohte Tagelöhner und Dorfhandwerker mit geringem Einkommen. Viele von ihnen hatten nur eine geringe Schulbildung, und dies dürfte für Antonio Santos nicht gegolten haben. Santos ist vermutlich oft gereist, seine Fotomotive im Kreis zeigen fast alle ein sommerlich-maritimes Setting. Hier gibt es traditionelle Fischerboote und Sandstrände, wie sie an der portugiesischen Atlantikküste vorzufinden sind, etwa in Figueira da Foz, 40 Kilometer westlich von Coimbra. Ein anderer Ort, an dem seine Bilder entstanden sein können, ist Costa da Caparica in der Nähe von Lissabon, auch heute noch für seinen "schwulen Strand" bekannt. Aber die Fotos könnten natürlich im gesamten Mittelmeerraum, also auch in Nordafrika aufgenommen worden sein: Zumindest ein Artikel Santos' im Kreis handelt von einer Begegnung mit einem "Araberjungen" in Marokko. Sollte Santos ein eigenes Fotostudio besessen haben? Denn wie sonst hätte er die Fotos von meist nur leicht bekleideten oder nackten jungen Männern entwickeln lassen können, ohne Aufsehen zu erregen?

Die Zeichnungen Antonio Santos' weisen keinen einheitlichen Stil auf. Manche von ihnen erinnern an Jean Cocteau (1889-1963), andere eher an Tom of Finland (eigentlich Touko Valio Laaksonen, 1920-1991) oder Peter Flinsch (1920-2010).2 Bezeichnend ist die Motivwahl. Hier sind junge, muskulöse, oft nackte Männer zu sehen, die sich durch eine betont schmale Taille und breite Schultern auszeichnen. Sie sind in der Regel bartlos und haben kurze Haare, manche von ihnen sind blond und entsprechen damit nicht unbedingt dem "südländischen Typus". Ein wenig aus der Reihe fällt die Zeichnung "Die Heiligen Drei Könige", die Ende 1952 im Kreis zum Abdruck kam.3 Einerseits verweist das Motiv auf die christliche Erziehung, die Santos erfahren haben mag, andererseits sind die Könige in ihren Phantasiekostümen von einer gewissen tänzelnden Androgynität, die die Beziehung der drei Männer zueinander erotisch auflädt und den Betrachter herausfordert.

Nicht ganz so kunstvoll wie die Zeichnungen sind die Fotografien Antonio Santos' im Kreis.4 Meist handelt es sich um Schnappschüsse junger Männer, die im weitesten Sinne auch als Urlaubsfotos durchgehen könnten. Kaum ein Detail verrät, wo die Aufnahmen gemacht wurden. Es überwiegen Sommerbilder von Sandstränden und Dünen, aber es gibt auch Aufnahmen einer steinigen Küste mit Felsen im Hintergrund. Manche der Männer tragen Badehosen, andere sind nackt. Ein Bild zeigt einen jungen Mann vor einem auf Land liegenden Holzboot, das ein auffälliges Auge schmückt.5 Die Tradition eines Augenpaares auf dem Bug alter Fischerboote ist im gesamten Mittelmeerraum und auch an der portugiesischen Atlantikküste bekannt. Die Augen spielen auf den ägyptischen Totengott Osiris an, sie sollen die Fischer vor Gefahren schützen, und bis heute sind solche Boote beliebte Fotomotive für Touristen. Auf einem anderen Foto ist ein junger Mann zu sehen, der eine weisse Matrosenmütze trägt, sonst nichts - eine Zufallsbekanntschaft?6

Bis zu einem gewissen Grad aufschlussreich sind die Texte, die Antonio Santos zum Kreis beigesteuert hat. In seinem Essay "Die Männerliebe in Portugal" beschreibt er homosexuelles Verhalten als im Land weit verbreitet.7 Überhaupt seien Homo- und Heterosexualität hier eng miteinander verwoben. Es gebe nur wenige "hundertprozentige Homoeroten", dafür aber sehr viele "Halb und Halbe", und im Grunde sei kaum ein portugiesischer Mann homosexuellem Verhalten abgeneigt. Die Gesetze seien nicht streng, und die Bevölkerung dulde die homosexuelle Liebe, nehme sie aber nicht ganz für voll. Hieraus erkläre sich auch der Umstand, dass es im Portugiesischen kaum Beispiele homoerotischer Literatur gebe. Schliesslich habe die homosexuelle Liebe hier nichts "Erhabenes": "Grosse Leidenschaften, Tragödien und Dramen der Freundesliebe kommen kaum vor."8 Aus dem Essay kann nicht abgeleitet werden, ob der Autor Portugiese war. Seine Angaben sind sehr allgemein gefasst. Der Autor erwähnt die Kaffeehäuser in Lissabon und geht auf Sprachliches ein (so bedeutet der portugiesische Ausspruch, man habe seine "drei Zwanziger noch", dass man "unberührt" sei), er erwähnt Rechtsfälle, die "unerquicklich" enden können, und äussert sich über die Prostitution im Land, gerade unter Heranwachsenden, im Kontakt mit Angehörigen des Militärs und Ausländern. Aber all dies hätte auch ein gut orientierter und einschlägig interessierter Tourist beobachten und festhalten können. 

Antonio Santos' Erzählung "Der Araberjunge aus Tanger" handelt von einem wohlhabenden europäischen Urlauber, der in Nordafrika erotische und sexuelle Abenteuer sucht, letztlich aber keinen erfüllten Kontakt mit einem arabischen Mann findet, weil er an kulturellen Missverständnissen und der eigenen Unfähigkeit, eine belastbare und tragfähige Beziehung einzugehen, scheitert.9 Der Erzähler erkennt zwar die Not, die junge Nordafrikaner in die Prostitution treibt, das ausbeuterische Verhalten männlicher Freier aus Europa verurteilt er aber allenthalben indirekt. Persönlicher und etwas privater scheint Santos' Erzählung "Bamby" zu sein. Sie liest sich als quasi-dokumentarische Erinnerung an einen früh verstorbenen Freund.10 Der schöne junge Mann namens "Bamby" war seit seiner Kindheit krank, mehrfach musste er sich einer Rippenresektion unterziehen, doch immer war er heiteren Gemüts und klagte nie. Er starb am 23. Januar 1952. Der Autor behauptet, er habe Bambys Ende beschrieben, "ohne einen Zoll von der Wahrheit abzuweichen", aber aus seiner Erzählung wird nicht deutlich, ob Bamby Portugiese war und beispielsweise in Coimbra lebte. Vermutlich eher nicht, da er als blond beschrieben wird und zusammen mit seiner Familie in einem Haus im siebten Stock wohnt. Zumindest für das historische Zentrum Coimbras wäre ein solch hohes Gebäude untypisch gewesen, in Lissabon aber gab es damals so etwas durchaus. Die Erzählung behandelt die Freundesliebe tendenziell "im nordischen Sinne", so wie Santos sie in "Die Männerliebe in Portugal" für unüblich erklärt hatte. Gleichwohl mag gerade der Tod "Bambys" der Anlass dafür gewesen sein, dass Santos sich in Verbindung mit dem Kreis setzte. Sein Essay über portugiesische Verhältnisse erschien als erste seiner Veröffentlichungen sechs Wochen nach dem genannten Todesdatum.

Die Originalzeichnungen Santos' im Schweizer Schwulenarchiv sind nur für Besucher des Archivs zugänglich.11 Es handelt sich meist um signierte Tuschzeichnungen im A5- oder A4-Format. Auf der Rückseite sind sie von 1 bis 14 nummeriert, doch stammt die Nummerierung nicht von Santos selbst, sondern von Ernst Ostertag, der die Zeichnungen 1999 im Nachlass von Eugen Laubacher / Charles Welti, dem Redakteur des französischen Teils des Kreis, gefunden hatte. Briefe und andere Zeugnisse Santos' dürften sich einst bei der Redaktion des deutschen Teils, also bei Karl Meier / Rolf, befunden haben, doch müssen sie als vernichtet gelten. Die Zeichnungen zeigen Matrosen (einer von ihnen wird explizit als Portugiese ausgegeben), Toreros und Cowboys, sitzende und liegende Jünglinge in oder ohne Shorts; nicht alle Werke tragen einen eigenen Titel. Ein paar Motive fallen aus dem Rahmen. So gibt es auf einem Bild wieder eine biblische Szene - zu sehen ist ein Weihnachtsengel mit Hirten und Soldaten - sowie auf einem anderen einen Piraten in Montur. Aber es liegen auch zwei Zeichnungen vor, die frühe "Ikonen" der Homosexuellengeschichte zeigen: ein Bildnis Alexanders des Grossen mit Kurzschwert und Gorgonenschild - und das Bildnis eines nackten Königsjünglings im Hermelinmantel, der König Ludwig II. von Bayern darstellt. Möglicherweise ist gerade diese Zeichnung ein Hinweis darauf, dass Antonio Santos gar kein Portugiese war, sondern aus dem deutschsprachigen Raum stammte und hier ansässig war.

Raimund Wolfert, Januar 2019

Quellenverweise

1

Eine schriftliche Anfrage an das städtische Kulturinstitut der Stadt Coimbra (Casa Municipal da Cultura) vom 21.11.2017 brachte keine neuen Erkenntnisse.

2

Zeichnungen von Antonio Santos erschienen in Der Kreis, 3/1952, 8/1952, 12/1952, 4/1953, 3/1958, 5/1958, 6/1958, 3/1959 und 1/1963.

3

Santos, Antonio: Die Heiligen Drei Könige, in: Der Kreis, 1952 (Jg. 20), Nr. 12, S. 13.

4

Fotos von Antonio Santos erschienen in Der Kreis, 5/1953, 7/1953 und 8/1953.

5

Santos, Antonio: [Ohne Titel], in: Der Kreis, 1953 (Jg. 21), Nr. 5, S. 15.

6

Santos, Antonio: [Ohne Titel], in: Der Kreis, 1953 (Jg. 21), Nr. 8, S. 22.

7

Santos, Antonio: Die Männerliebe in Portugal, in: Der Kreis, 1952 (Jg. 20), Nr. 3, S. 1-4.

8

Ebd., S. 4.

9

Santos, Antonio: Der Araberjunge aus Tanger, in: Der Kreis, 1953 (Jg. 21), Nr. 9, S. 14-16.

10

Santos, Antonio: Bamby, in: Der Kreis, 1953 (Jg. 21), Nr. 3, S. 6-8.

11

Sie sind im Schweizerischen Sozialarchiv in Zürich unter der Signatur Ar 36.38.13 archiviert.