1958-1969

Jahre der Repression

Diese Jahre waren schmerzhaft. Darum sind sie besonders wichtig. Wir, Ernst Ostertag und Röbi Rapp, haben sie hautnah miterlebt.

Noch 1957 feierten wir das Jubiläum 25 Jahre KREIS (und seine Vorläufer). Die Organisation, 1932 von einer kleinen Frauengruppe gegründet, stand jetzt auf ihrem Höhepunkt; sie war nicht nur gesamtschweizerisch, sondern international geworden.

Aber sie operierte im Verborgenen. Die Allgemeinheit wusste nichts von ihr. Aus heutiger Sicht fast nicht vorstellbar.

Die Allgemeinheit wusste überhaupt fast nichts über ihre homosexuellen Mitmenschen. War einer/eine "so", dann tuschelte man hinter vorgehaltener Hand. "So" zu sein war unschicklich, ein Makel. Witze zirkulierten in Männerrunden, an Stammtischen. Sie waren das Letzte, Unterste. Ein kleiner "Held", wer sie vortrug.

In der Vorkriegs- und Kriegszeit hatte Unsicherheit und Stagnation geherrscht. Die 50er Jahre brachten ersehnte Ruhe und Ordnung und auch den Anfang von Aufschwung. Die verschonte Insel Schweiz, das idyllische Gärtchen, daran wollte niemand rütteln. Jede Störung verunsicherte. Gegen Jugendliche, die auffällig wurden, schickte man die Polizei. "Rasen nicht betreten!" hiess es in den meisten Parkanlagen.

Aufschreckend wie Terroranschläge wirkten da zwei Morde im Strichermilieu. Und es waren die Opfer, nicht die Täter, die man als Terroristen sah. Sie waren Bürger wie jedermann, aber sie hatten eine verborgene, schändliche Sache getan. Mit ihrem Tod kam diese "schändliche Sache" ans Licht. "So etwas gibt es bei uns?" Die Allgemeinheit war empört. Eine rasch entfesselte Presse nannte es "Eiterbeule" und rief nach Polizei und "Rausschneiden" mit Stumpf und Stiel.

Ein Jahr nach der Jubiläumsfeier des KREIS kam es zum Urteil im zweiten Mordfall. Eine Beugung des Rechts: Der Täter verliess das Gerichtsgebäude als freier Mann und die Presse feierte "Sieg der Menschlichkeit". Zugleich begann die Polizei mit unrechtmässigen Befragungen von vermuteten Homosexuellen, um sie in einem Register aufzulisten. Schweine gehören registriert.

Zwei Jahre nach dem Urteil startete die Polizei (1960) grossangelegte Razzien gegen Barbesucher und Spaziergänger in Parks, fing unbescholtene Leute ein, Homosexuelle und andere und fuhr sie auf den Posten zu peinlichen Befragungen und zur Registratur, bald auch zu Zwangs-Bluttests. Denn es ging die Syphilis um "im Milieu".

Zugleich verfügte die Stadt Zürich ein Tanzverbot für Männer in der "Eintracht", dem Lokal des KREIS. Das war exakt gezielt und traf den KREIS ins Mark. Grossveranstaltungen waren nicht mehr möglich. Sie aber hatten das nötige Geld für die Zeitschrift gebracht.

1961 verlor der KREIS sein Lokal. Mangelndes Interesse, mangelnde Solidarität; die Abonnentenzahl begann zu schrumpfen.

Zehn Jahre nach dem Jubiläum erschien die letzte Ausgabe der Zeitschrift, Dezember 1967. Der KREIS war am Ende.

Die Homo-Register der Polizei wurden erst ab 1979 offiziell aufgehoben. Dies mit der Erklärung, dass sie nie von Nutzen gewesen seien. Und nie gab es eine Entschuldigung oder gar Rehabilitierung. Die Opfer blieben, Unschuldige allermeist, alleingelassen.

Das Fazit der Repressionsjahre ist düster:

Es kann unter gewissen - jederzeit möglichen - Umständen sehr rasch gehen, bis gesetzliche Normen verbogen und Unrecht sanktioniert wird, gerade wenn es um "Erhaltung von Recht und Ordnung" geht. Das wird im ersten Kapitel unter "Mord im Milieu" beschrieben.

Wenn Ordnungskräfte einmal begonnen haben, in gesetzlichen Grauzonen zu operieren - und wenn dies von einer Bevölkerungsmehrheit und vielen Medien gebilligt wird - dann entsteht eine gefährliche Eigendynamik. Repression und Razzien werden Routine. Auch dazu gibt es ein Kapitel ("Repressions-Routine").

Zum Fazit solcher Vorgänge gehört auch festgestellt, dass alle Opfer werden, nicht nur die Verfolgten, auch ihre Verfolger und die Allgemeinheit. Tolerierte Willkür löscht die Konventionen des respektvollen Umgangs und untergräbt das normale Vertrauen ohne das eine Gesellschaft nicht funktioniert. In den Kapiteln "Beginn der Repression", "Razzien und Folgen", "Repressionsopfer" steht diese Realität mit ihren Automatismen anhand von Zeugenberichten im Zentrum. Zugleich kommen kritische Stimmen zu Wort und hervorgehoben ist auch das Echo im Kreis als Zeitschrift.

Die Sinnlosigkeit des Ganzen und das Erreichen des Gegenteils dessen, was man erreichen wollte, dokumentiert kaum etwas klarer und deutlicher als das Kapitel "Umgang mit Syphilis".

All das macht den Teil "Repression" zu einem eigentlichen Schlüssel-Geschehen der gesamten schweizerischen Schwulengeschichte.

In der Ohnmacht und Wut dieser Jahre schärfte sich aber auch der Wille zu einem Neuanfang, wuchs der Mut, auf die Strasse und in die Öffentlichkeit zu gehen, um Veränderung zu fordern. Aufbruch lautete der Befehl. Zu verlieren hatte man nichts. Man konnte nur gewinnen.

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Ernst Ostertag, März 2012