1968-1986

Aufbruch zur Schwulenbefreiung

Nicht die exakte Jahrzahl 1968, wohl aber der Begriff "68er" steht für gesellschaftlichen Aufbruch.

Damit gemeint ist das Ende einer 1933 mit der Machtergreifung der Nazis begonnenen Bevormundung des Bürgers durch eine damals vielfach begrüsste Zucht und Ordnung-Ideologie. In schweizerischer Abwandlung und in Anpassung ans Insel-Dasein, wurde sie in den 30er Jahren auch bei uns bestimmend, was die Stärkung des nationalen Bewusstseins und der staatlichen Unabhängigkeit betraf. Ihr Kern war die gesunde Familie, verwurzelt in regionalen Traditionen; ihr Ziel der "gesunde Staat", bestehend aus geeintem, selbstbewusstem Volk.

Damit kam man durch die Kriegsjahre und (ab 1948) die heissen Phasen des Kalten Krieges.

Damit aber war der erste Aufbruch des Jahrhunderts, die auf die Katastrophe des Ersten Weltkriegs (1914-1918) folgenden 20er Jahre, abgewürgt und verdrängt. Es blieb eine vage Erinnerung, es blieb ein Traum von freierem Entfalten und individuellem Gestaltenkönnen, von vielfältigen, offenen Arten des Menschseins. Doch mit der Repression in den späten 50er und während der 60er Jahre blieb auch das Festhalten an starren Formen gesellschaftlicher Ordnung weiter bestehen, und es verstärkte sich massiv.

Das erzeugte Druck, der langsam, aber stetig zunahm. Die neue, junge Nachkriegsgeneration fühlte sich verraten, entmündigt und ihrer Perspektiven beraubt. Sie begann aktiv zu werden. Ab 1968 kam es zu spontanen Demonstrationen.

Deren polizeiliche Unterdrückung liess Gewalt entstehen. Man wehrte sich und merkte, in der Menge war man stark. Spontane Protestaktionen setzten sich durch.

Aus ihnen wuchsen die grossen Befreiungsbewegungen sowohl in den USA als auch in Europa: Militante Frauen mit Forderungen nach Gleichstellung; Aktionen der schwarzen US-Bürger mit Black Power für Gleichberechtigung; Proteste der Jugend gegen den Vietnam-Krieg, ihre Friedensmärsche und Happenings, make love not war, Flower-Power; die revoltierenden Studenten mit antiautoritären Projekten zum gesellschaftlichen Umbruch.

Eine dieser Bewegungen war auch die Schwulen- und Lesbenbefreiung. Sie verlief parallel zu den anderen, manchmal mit ihnen vereint, manchmal "nur" von ihnen beeinflusst. Im Teil 6 der Schwulengeschichte wird sie unter dem Titel AUFBRUCH dargestellt. Allerdings beschränkt auf das Geschehen in der Schweiz. Dieses Geschehen war höchst vielschichtig und hatte Auswirkungen auf die gesamte Gesellschaft.

In den mehr als 50 Kapiteln geht es um Aktivitäten von Schwulen und Lesben, die sich primär aus ihrer persönlichen Situation heraus mit andern Betroffenen zusammentaten, um diese Situation zu ändern, um offener leben und wirken zu können, sei es im beruflichen Umfeld oder bei Betätigungen in ihrer Freizeit.

Anfänglich stehen Gruppierungen mit der Geschichte ihrer Gründung im Fokus. Jede dieser Gründungen hatte zum Ziel, sowohl gesellige Treffen zur Vernetzung von Gleichgesinnten wie gesellschaftspolitische Aktionen durchzuführen. Nebst regelmässigen Tanzabenden, also Disco, gehörten unter anderem die Herausgabe eigener Publikationen wie Zeitschriften oder Infos zum Programm und ebenso die Organisation von Diskussionsrunden, Lesungen, Vorträgen, Film- und Theateraufführungen. Später ging es ums Hinaustreten in die Öffentlichkeit. Dabei gab es geglückte, erschwerte und gescheiterte Aktionen.

All das betraf den Hauptbereich Politik und Gesellschaft.

Daneben fanden sich andere Engagierte, die Aktivitäten in neuen Bereichen begannen, um sich und ihre frisch entstandenen Gruppierungen an diesen Orten einzubringen. Sie wollten aufklärend wirken und in gesellschaftspolitischem Sinn Änderungen herbeiführen:

Dies mit viel Herzblut auf dem steinigen Boden der Kirche.

Aber auch im Schul- und Erziehungswesen und in diversen Teilen des Landes, etwa der Romandie, dem Tessin oder der Ostschweiz wurden Gruppen aktiv.

Zugleich taten sich engagierte Eltern von homosexuellen Töchtern und Söhnen zusammen und begannen dort aufzutreten, wo Schwule und Lesben kaum Gehör fanden.

Natürlich gab es Richtungskämpfe unter einigen Gruppen, Auseinandersetzungen um gewisse Projekte, Animositäten zwischen Lesben und Schwulen. Gezielte Einsätze leisteten aber alle gemeinsam, etwa die ersten nationalen CSD-Demos (heute Pride). Und gemeinsam erreichten sie erste entscheidende Erfolge wie die Abschaffung der polizeilichen Schwulenregister.

All das und vieles mehr macht den Teil 6 zum umfangreichsten der Website. Er schliesst direkt an den Untergang des KREIS und die Repressionsjahre an und führt bis zum grossen Einschnitt der Aids-Tragödie.

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Ernst Ostertag, April 2011