Die neue Krankheit

Veränderte Lage

Der Aufbruch, die Revolte, die Ehr­lich­keit und Freiheit, so zu leben und zu sein wie man ist, die sexuelle Freiheit - und vor allem diese - führten in ein neues Le­bens­ge­fühl, eine neue Realität und in ein neues Be­wusst­sein - und spreng­ten Grenzen. In den 70er Jahren ent­stan­den al­ter­na­ti­ve Formen von Be­zie­hun­gen in fa­mi­liä­ren wie ge­sell­schaft­li­chen Be­rei­chen. Es wurde viel ex­pe­ri­men­tiert, und die Er­fah­run­gen wurden offen aus­ge­tauscht.

Mitten hinein trat Aids als memento mori, un­ver­hofft und absolut wie in mit­tel­al­ter­li­chen To­ten­tän­zen. Es begann um 1980/​81 in Schwu­len­zen­tren der USA und er­reich­te Europa 1982. In der Schweiz wurde ein erster Patient mit Aids im Juni 1982 dem Bun­des­amt für Ge­sund­heit (BAG) gemeldet1.

Zu diesem Zeit­punkt er­schie­nen erste Mel­dun­gen in allen Medien und be­rich­te­ten von einer neuen, un­be­kann­ten, töd­li­chen Krank­heit, die haupt­säch­lich schwule Männer befalle. Darum wurde sie "Schwu­len­seu­che" genannt. Vorerst trat sie in gewissen Teilen der USA (Ka­li­for­ni­en, Hawaii, New York) auf. Viele Leute in Amerika und bald auch in Europa nannten sie "Strafe Gottes für sündiges Tun der Be­trof­fe­nen".

Andere er­kann­ten, dass Ta­bui­sie­rung und Aus­gren­zung von Menschen mit ihrer of­fen­sicht­lich durch In­fek­ti­on ent­stan­de­nen und damit über­trag­ba­ren Krank­heit nie­man­dem hilft, sondern im Ge­gen­teil die Aus­brei­tung fördert. Früher oder später würden auch He­te­ro­se­xu­el­le befallen, womit die Gefahr einer Epidemie gegeben wäre. Das aber galt es wenn irgend möglich zu ver­hin­dern.

Das einzige mo­men­ta­ne Ge­gen­mit­tel sah man im Auf­klä­ren über die An­ste­ckungs­we­ge. Und das hatte auf offene, breit und immer wieder neu ge­streu­te Weise zu ge­sche­hen, zusammen mit klaren Bot­schaf­ten, wie man sich schützen konnte. Es war vor­zu­ge­hen wie bei jeder anderen In­fek­ti­ons­krank­heit mit hohem Ge­fah­ren­po­ten­ti­al.

Al­ler­dings, hier handelte es sich um eine An­ste­ckung, die fast aus­schliess­lich über Se­xu­al­kon­tak­te geschah. Jede Auf­klä­rung bewegte sich in diesem Fall auf de­li­ka­tem Feld. Sollte Prä­ven­ti­on wirksam sein, mussten Tabus ge­bro­chen werden. Die Krank­heit stellte die Ge­sell­schaft vor ein Dilemma. Zum Glück waren in manchen Teilen der Schweiz die "wilden" Jahre des ge­sell­schaft­li­chen Auf­bruchs vor­aus­ge­gan­gen. Sie  hatten in Bezug auf sexuelle Tabus einiges ver­än­dert.

Wissen und kon­se­quent an­ge­wand­te Prä­ven­ti­on sind bis in die Anfänge des 21. Jahr­hun­derts die wich­tigs­ten Schutz­mög­lich­kei­ten ge­blie­ben. Noch immer gibt es keine Impfung und keine wirklich hei­len­den Mittel, auch wenn heute Fälle be­schrie­ben werden, in denen das HI-Virus bei me­di­ka­men­tö­ser Be­hand­lung nicht mehr nach­ge­wie­sen werden kann.

15 Jahre lang (bis 1997) verlief Aids tödlich. Heute ist die Le­bens­er­war­tung jedes HIV-Po­si­ti­ven verkürzt und die ver­blei­ben­de Le­bens­zeit verläuft in Ab­hän­gig­keit von steten Kon­trol­len und re­gel­mäs­si­ger Me­di­ka­men­ten-Einnahme. Ne­ben­wir­kun­gen und Vi­ren­re­sis­tenz sind zudem nie aus­zu­schlies­sen.

An­fäng­lich starben in­ner­halb von 8 bis 10 Jahren Zehn­tau­sen­de, meist junge Männer, fast alles schwule Männer. Einzelne Über­le­ben­de haben in dieser Zeit beinahe ihren gesamten Freun­des­kreis verloren.

In der Schweiz erkannte man früh, dass Ge­sund­heits­be­hör­den und Schwu­len­or­ga­ni­sa­tio­nen zu­sam­men­ar­bei­ten müssen, um eine Epidemie zu ver­hin­dern. Die in den 70er Jahren auf­ge­bau­ten Struk­tu­ren der nun recht gut or­ga­ni­sier­ten Schwulen konnten über­le­bens­wich­ti­ge Aufgaben auch für die Ge­samt­ge­sell­schaft über­neh­men und dabei auf ganz neue Weise in der Öffent­lich­keit in Er­schei­nung treten. Der Aids-Einbruch war eine Ka­ta­stro­phe. Sie bot aber auch, wie jede Ka­ta­stro­phe, eine Chance.

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Ernst Ostertag, August 2007

Quellenverweise
1

Bertino Somaini, Die Er­fin­dung einer Politik - ein per­sön­li­cher Bericht zur Ent­ste­hung der HIV/​Aids-Politik in der Schweiz, in: Bachmann, Carine, Ruth Bachmann and Sandro Cattacin (2002). Ri­si­ko­ver­wal­tung: Lernen aus der eid­ge­nös­si­schen Politik im Umgang mit Ge­sund­heits­ri­si­ken HIV/​Aids, He­pa­ti­tis C und BSE im Ver­gleich. Basel, Genf, München: Helbing & Lich­ten­hahn.