1990-1997
Safer Sex für Ledermänner
Aufklärungs-Broschüren
"Ledermänner" sind eine Minorität innerhalb der Minorität der Schwulen. 1973 formen sie eine erste eigene Verbindung in Vereinsform unter dem Namen "Loge 70 (Schweiz)". Es gibt deutsche Vorbilder.
Die für Ledermänner typischen sexuellen Aktivitäten können höhere Risiken für eine Aids-Ansteckung bedingen. In der Leder-Community weltweit sind die Zahlen der frühen Aids-Opfer markant höher. Daher kommen aus diesen Kreisen auch erste Vorschläge zur Prävention und ihre Vertreter sind von Anfang an tätig, etwa in der Gründungsphase der AHS (Aids-Hilfe Schweiz). Herbert Riedener, Präsident der Loge 70, ist unter anderem Gründer und Leiter der Hot Rubber Company, die 1986 das erste sichere Kondom für Schwule herstellt und vertreibt.
Zusammen mit Beat Rüedi verfasst er 1990 die erste Aufklärungs-Broschüre mit dem Titel "Safer Sex für Ledermänner". Sie wird von in- und ausländischen Präventions-Fachleuten gelobt. Herausgeber und Hauptsponsor ist die Loge 70.
In drei Monaten ist sie ausverkauft. Die AHS druckt eine zweite Auflage, finanziell unterstützt durch das BAG (Bundesamt für Gesundheitswesen). Jetzt aber regen sich Kreise, die Ledersex als pervers und unmoralisch sehen. Allen voran wird der sektenähnliche "Verein zur Förderung psychologischer Menschenkenntnis" (VPM) tätig und gewinnt im Herbst 1991 einige Parlamentarierinnen (auch Männer) für eine Aktion gegen Missbrauch von öffentlichen Geldern (des BAG).
Das ruft den zuständigen Innenminister, Bundesrat Flavio Cotti (TI, CVP), auf den Plan. Er droht mit sofortigem Entzug aller Beiträge an die Aids-Hilfe Schweiz (AHS), wenn diese ihre beanstandete Leder-Broschüre nicht im Januar 1992 restlos vernichte. Damit würde die gesamte Aids-Prävention gestoppt oder massiv behindert. Es geht um Menschenleben. Die AHS gehorcht.
Nun aber erwacht der schwule Widerstand. Mann protestiert: mit einem deutlichen Brief an Bundesrat Cotti und mit Orientierung der Öffentlichkeit. Anlass bietet (ausgerechnet!) das Lob der BAG-Aktionen, also der schweizerischen Prävention, durch die WHO (Weltgesundheits-Organisation der UNO).
Zudem druckt man die vernichtete Broschüre in einer dritten Auflage mit einem "Exkurs", "Hinweis" und "Nachwort" unter anderem zur trüben Geschichte der bundesrätlichen Intervention. Sie erscheint im Herbst 1992, gesponsert und herausgegeben durch private Quellen und Institutionen. Es gibt sie auch - wie schon die eingestampfte 2. Auflage - in französischer Sprache.
1994 stirbt Herbert Riedener an Aids.
1996 gibt die Loge 70 eine vierte, nun aber erweiterte und völlig anders gestaltete Ausgabe unter demselben Titel heraus, "Safer Sex für Ledermänner". Gegen sie wird wiederum öffentlich polemisiert, diesmal vom Präsidenten der CVP. Doch die Wirkung ist auch willkommene Propaganda. Die neue Broschüre erhält so viel Beachtung, dass eine Ausgabe für französisches Publikum und eine für Italien entsteht, und eine Übersetzergruppe will sie in England herausbringen.
Ernst Ostertag, September 2011