Rede von Corine Mauch, Stadtpräsidentin Zürich

Vernissage vom Mittwoch, 3. Juni 2009, 19:00, Vortragssaal Kunsthaus Zürich

Sehr geehrte Damen und Herren,
sehr verehrte Gäste 

Es freut mich, Sie an der heutigen Vernissage zur Website der Schwulengeschichte in der Schweiz begrüssen zu dürfen. Eine Stadtpräsidentin hat, vor allem dann, wenn sie erst seit kurzem im Amt ist, nicht alle Tage die Möglichkeit, einem historischen Moment beizuwohnen. Heute ist dies der Fall. Das mag ein wenig pathetisch tönen.

Wenn man sich aber die Entstehungsgeschichte des Projekts und vor allem seine Materialien und Hintergründe vor Augen führt, wird deutlich, welch einzigartiges Ergebnis wir heute in aller Öffentlichkeit feiern können.

"Es geht um Liebe" - ein Titel, der es kaum treffender auf den Punkt bringen könnte und eigentlich alles sagt. Aber eben doch nicht alles. Jede Liebe hat ihre Geschichte, ihre Hintergründe, ihre Tagebücher, ihre Photoalben, ihre Erinnerungsstücke und ihr Daheim.

Auch die Liebe von Frauen und Frauen und von Männern und Männern hat eine Geschichte, eine Liebe, die man etwas technisch und spröde "gleichgeschlechtlich" nennt. Eine Liebe, die noch allzu oft zu abstrusen Diskussionen Anlass gibt und noch allzu oft nicht einfach als das wahrgenommen wird, was sie nun einmal ist. Eine ganz gewöhnliche, aber zum Glück - was die Liebe so an sich hat - auch aussergewöhnliche Beziehung zwischen Menschen wie Ihnen, Euch, Dir oder uns.

Es ist das grosse Verdienst von vielen und allen voran von Ernst Ostertag und Röbi Rapp, dass wir erfahren, was und wie viel es braucht, um diese Liebe leben zu dürfen. Quasi die Geschichte hinter den Geschichten. Nicht nur vom Hörensagen, sondern sozusagen aus erster Hand. Aus dem reichen Fundus von Zeitzeugen, ungeschönt und ohne Auslassungen, von unermüdlichen Chronisten, die mit nie nachlassender Neugier der Frage nachgegangen sind, weshalb ihre Liebe ungewöhnlich gewesen sein soll, was sie ausgemacht hat, was vorausgegangen ist und wie die Gesellschaft damit umgegangen ist.

Die Schwulengeschichte der Schweiz ist mithin nicht nur die Geschichte der Schwulen in der Schweiz, sondern auch eine Geschichte von schwuler Liebe in der Schweiz.

Geschichte ist unerlässlich, um sich stets vor Augen zu halten, dass das, was erreicht worden ist, nicht selbstverständlich ist. Sie ist da, um an das Vergangene zu erinnern, aus den Erfahrungen und Geschehnissen der Vergangenheit Lehren zu ziehen, mit ihnen die Gegenwart zu begreifen und mit ihrer Hilfe die Zukunft gestalten zu können.

Immerhin hat der Stadtrat von Zürich vor rund zwei Jahren in seinen Antworten auf schriftliche Anfragen aus dem Gemeinderat festgehalten, dass die gesellschaftspolitische Grundhaltung in der Stadt Zürich offen und tolerant sei und dass lesbisches und schwules Leben meistens problemlos möglich sei. Dass der Stadtrat dann auch noch ausdrücklich betont, dass Lesben, Schwule und Transsexuelle Teil der Gesamtgesellschaft seien, sieht auf den ersten Blick fast rührend aus.

Wenn wir aber nur zwei Jahre später hören müssen, mit welchen Worten eine Petition aus reaktionären Kreisen (mit der anmassenden Bezeichnung "Familienlobby") die EuroPride verhindern will, dann wird man wieder einmal mit aller Deutlichkeit daran erinnert, dass wir noch keineswegs am Ziel einer selbstverständlichen Akzeptanz angelangt sind - trotz des selbstbewussten Mottos des Christopher Street Day von 2002, "We are family".

Die Aufarbeitung schwuler Geschichte soll mithelfen, die Erinnerung wach zu halten. Sie leistet damit auch einen Beitrag zur Identitätsfindung. Es wird ja auch gesagt, dass, wer keine Geschichte hat, nicht gelebt hat.

Die Geschichte schlägt eine Brücke zu längst vergessenen Lebensumständen und korrigiert den Eindruck, Lesben und Schwule seien Angehörige einer geschichtslosen Minderheit. Lesben und Schwule hatten lange Zeit kaum Platz gehabt in der Geschichte eines Landes. Sie gehörten in den Bereich des nur schwer Aussprechbaren. Mit der heutigen Publikation soll sich dies wirksam verändern. In ihr kann nun umfassend nachverfolgt werden, dass heutige Lesben und Schwule durchaus in einer Tradition stehen und wie sie sich in einer feindlich eingestellten Umwelt verhalten und durchgeschlagen haben.

Auch wenn man daraus nicht direkt Lehren für die Gegenwart ableiten kann, werden die geschichtlichen Erfahrungen, die jetzt allen zugänglich sind, sicher entscheidend mithelfen, auch heutige Fragen zu beantworten. Aber nicht nur dies. Das Internet und seine elektronischen und gestalterischen Kunststücke machen es möglich, dass die Geschichte mit dem Redaktionsschluss nicht ein zumindest vorläufiges Ende findet, sondern dass sie täglich weitergeschrieben werden kann. Sie befindet sich damit immer auf dem neuesten Stand, und niemand kann sich eigentlich mehr herausreden, sie oder er hätte nichts davon gewusst. Es wird damit auf eindrückliche Weise deutlich gemacht, dass sich diese Geschichte ständig bewegt und erneuert.

Eine Schwulengeschichte wendet sich nicht nur an Homosexuelle. Auch Heterosexuelle sollen sich mit der Frage befassen, wieso bestimmtes sexuelles Verhalten diskriminiert wurde und zum Teil immer noch wird, auch wenn heute weitherum die Ansicht herrscht, dies sei überwunden. Beim genaueren Hinsehen offenbart sich Toleranz und Akzeptanz allzu oft als oberflächliche Kosmetik. Im "Nichterkennen" der schwulen oder lesbischen Lebenssituation liegt ein grosses Ausgrenzungspotenzial.

Ich erhoffe mir von der Veröffentlichung einer Schwulengeschichte unseres Landes nicht nur eine Demonstration des gestärkten Selbstbewusstseins, sondern auch eine Verbesserung des allgemeinen Bewusstseins in der gesamten Bevölkerung.

Ich danke allen, die das Zustandekommen dieses unschätzbaren Werkes möglich gemacht haben. Allen voran natürlich Ernst Ostertag und Röbi Rapp, die ihr unerschöpfliches Wissen, ihre reichen Erfahrungen und ihren grossen Schatz an schier unüberblickbaren Materialien zur Verfügung gestellt haben und mit der breiten Öffentlichkeit teilen wollen.

Ihnen allen ist zu verdanken, dass eine schon fast schmerzliche Lücke endlich hat ausgefüllt werden können und dass unsere Geschichtsschreibung um ein längst überfälliges und reiches Kapitel ergänzt und bereichert worden ist. Ich wünsche der Website der Schwulengeschichte der Schweiz, dass täglich ein Vielfaches von "nur" 10 Prozent unserer Bevölkerung darauf zugreifen und sie innig lieben werden.  

Corine Mauch, Stadtpräsidentin von Zürich