Newsletter 55

Juli 2014

Diese Ausgabe enthält folgende Themen: 

  • Kolumne: Ein Dichter, zerbrochen an der ersten blutigen Schlacht 1914
  • Der Erste Weltkrieg und die zerbrochenen Münder
  • Sandkörner und der Erste Weltkrieg - Eine Buchbesprechung

      

Ein Dichter, zerbrochen an der ersten blutigen Schlacht 1914

eos. Der österreichische Lyriker Georg Trakl (1887-1914), dessen Bedeutung man erst nach seinem frühen Tod erkannt hatte, wurde in der Zeitschrift Der Kreis zweimal vorgestellt: 1944 zum 30. Todestag und 1962 zur 75. Wiederkehr seiner Geburt. Zugleich soll mit diesem Newsletter an das Grauen erinnert werden, das vor 100 Jahren begann und in zwei Weltkriegen mit Millionen von Toten und der Zerstörung halb Europas endete.

Trakl schrieb keine einfache Sprache. In seinem Leitartikel zur Ausgabe vom Juni 1962 gab Karl Meier / Rolf dem Leser etwas Einstimmung:

"Trakls Verszeilen [...] durchbrachen die strenge Form [...], aber die Bilder, die sie fixieren, sind immer noch fassbar, hörbar, lesbar, geben noch ein Inneres frei, berühren uns noch als Erlebnis, als Trauer. [...]"

Im Leopold-Museum in Wien gibt es momentan eine Ausstellung zu Werken österreichischer Künstler vom Jahrhundertanfang bis zum Ende der k.u.k. Monarchie 1918. Dort hängen Bilder (meist nackte Jünglinge) von Anton Kolig (1886-1950), einem Maler, der ebenfalls im Kreis vorgestellt wurde. Und es sind Gedichte Trakls an Wände projiziert. Eines davon trägt den Titel "De produndis" wie jene im Gefängnis geschriebenen Briefe von Oscar Wilde, die 1905 und 1908 postum erschienen sind. Das Gedicht von Georg Trakl wurde 1909 verfasst. Er war 22:

Es ist ein Stoppelfeld, in das ein schwarzer Regen fällt.
Es ist ein brauner Baum, der einsam dasteht.
Es ist ein Zischelwind, der leere Hütten umkreist -
Wie traurig dieser Abend.
[...]
Ein Schatten bin ich ferne finsteren Dörfern.
Gottes Schweigen
Trank ich aus dem Brunnen des Hains.
Auf meine Stirne tritt kaltes Metall.
Spinnen suchen mein Herz.
[...]

Zu den Texten Trakls im Kreis gehört auch die dreiteilige Elegie "Elis". Mit diesem Namen dachte der Dichter nicht nur an die griechische Landschaft mit dem Tempel des Olympischen Zeus, wo die antiken Spiele stattfanden, sondern an einen der dort versammelten Epheben und Athleten. Ihm gab er den Namen Elis. Dem Abdruck dieses Gedichtes folgte auf den nächsten Seiten im Kreis (6/1962) eine sozusagen als Nachruf gedachte "Trakl-Novelle" von Herbert Fritsche. Sie war aus der deutschen Zeitschrift Der Eigene (1896-1932) übernommen und trug den Titel "Der Knabe Elis". Daraus einige Abschnitte, die wir, wie alle Zitate und Gedichte in diesem Newsletter, nicht in die Website aufnahmen:

"Wie Elis damals dahinschritt! Wie ernst er war in so jungen Jahren - und doch zugleich so schalkhaft. Seine hohe Jungenstirn mit den zwei Locken an der Schläfe, die immer an Blut gemahnten - an das Blut des Lebens und des Tiroler Weins, wenn auch ein Hauch des Vergehens, ein Tropfen Tod geheim darein gemischt schien. Ein Knabe, ein oft lachender, dennoch unerklärlich schwermütiger Knabe, ein süss Widerspruchsvoller, ein Freund, ein Erlöser, von Satan gesandt.

Georg Trakl faltet die Hände, er will beten für das Leben des Geliebten, des Quälenden, qualvoll Gequälten. Dann setzt er sich aufrecht hin, eine wunderbare Ruhe ist auf einmal da, zu seiner Rechten steht der Schatten Hölderlins, zu seiner Linken der Jüngling Rimbaud: Georg Trakl, Österreichs grösster Dichter, schreibt die Elegie 'An den Knaben Elis', das unsterbliche Liebesgedicht - in einer Friedenauer Kneipe, auf einem Bieruntersatz:

'Elis, wenn die Amsel im schwarzen Wald ruft,
Dieses ist dein Untergang.
Deine Lippen trinken die Kühle des blauen Felsenquells.'

Als er zu der Stelle kommt:

'Du aber gehst mit weichen Schritten durch die Nacht,
Die voll purpurner Trauben hängt,
Und du regst die Arme schöner im Blau',

stehen seine Augen voller Tränen.

'O, wie lange bist, Elis, du verstorben.
Dein Leib ist eine Hyazinthe,
In die ein Mönch die wächsernen Finger taucht...'

Der Dichter zeichnet stille auf, was ihm in heiliger Schau begegnet. Die Schatten ihm zur Seite lächeln ernst. Der Knabe Elis tritt auf Zehenspitzen vor ihn hin - und ob des glückverklärten Wiedersehens erschrocken, schreibt Georg Trakl voller Ungeduld die letzten Verse des Gedichtes:

'Auf deine Schläfen tropft schwarzer Tau,
Das letzte Gold verfallener Sterne.'"

Das Elis-Gedicht schrieb Trakl 1914. Wenig später wurde er als Militärapotheker in die kaiserlich königliche Österreich-Ungarische Armee einberufen. Der erste Weltkrieg war ausgebrochen. Er kam an die Front nach Galizien in der heutigen Ukraine, wo der Kampf gegen das Russische Kaiserreich tobte. Dort entstand das düstere Gedicht jener Zeit. Es steht an die Wand im Leopold Museum geschrieben und trägt den Titel "Im Osten":

Den wilden Osten des Wintersturms
Gleicht des Volkes finsterer Zorn,
Die purpurne Woge der Schlacht,
Entlaubter Sterne.
Mit zerbrochenen Brauen, silbernen Armen
Winkt sterbenden Soldaten die Nacht.
Im Schatten der herbstlichen Esche
Seufzen die Geister der Erschlagenen.
Dornige Wildnis umgurtet die Stadt.
Von blutenden Stufen jagt der Mond
Die erschrockenen Frauen.
Wilde Wölfe brachen durchs Tor.

Trakl leitete eine Station für Verwundete und erlebte dort die blutige Schlacht von Grodek, einer Stadt am Weg von Lemberg (heute Lwiw, Ukraine) nach Krakau, das damals zu Österreich-Ungarn gehörte. Er hatte rasch an die hundert Schwerverwundete und Sterbende zu versorgen. Allein und ohne zureichendes Material. Das trieb ihn zur Verzweiflung. Zudem waren eine Stunde vor der Schlacht 13 Ruthenen (Russen, Ukrainer) an Bäumen vor seinem Zelt aufgehängt worden. So verfasste er sein letztes Gedicht, überschrieben mit "Grodek":

Am Abend tönen die herbstlichen Wälder
Von tödlichen Waffen, die goldenen Ebenen
Und blauen Seen, darüber die Sonne
Düster hinrollt; umfängt die Nacht
Sterbende Krieger, die wilde Klage
Ihrer zerbrochenen Münder.
Doch stille sammelt im Weidengrund
Rotes Gewölk, darin ein zürnender Gott wohnt,
Das vergossene Blut sich; mondne Kühle;
Alle Strassen münden in schwarze Verwesung.
[...]

Einziger an Trakls Seite war der Freund, sein Offiziersbursche, der Bergarbeiter im Salzwerk, Mathias Roth (1882-1965). Er betreute ihn liebevoll, als Trakl zusammenbrach, verhinderte den Suizidversuch und blieb bei ihm, als er in ein Militärhospital nach Krakau verbracht wurde. Dort starb der Dichter am 3. November 1914 an Herzstillstand durch eine Überdosis Kokain. Ob Unfall oder Suizid wurde nie geklärt. Sicher aber starb er als Opfer des Krieges, Opfer seiner Zeit. Mathias Roth war der einzige Mensch am Grab. 1925 wurden Trakls Gebeine nach Mühlau bei Innsbruck überführt.

In seiner Novelle (Kreis 6/1962) fuhr Herbert Fritsche fort:

"Am 3. November stirbt im Garnisonsspital zu Krakau der [...] Leutnant Georg Trakl. [...] Selbstmord, meldet der Assistenzarzt. Unfall, sagen die Freunde. Mord, verbreitet die Dichterin Else Lasker-Schüler [1869-1945]. Sie sagt die Wahrheit.

Viele trauern um den edlen Menschen, den grossen Dichter. Die Besten im Lande sind seine Freunde gewesen. Die Besten im Lande sind seine Freunde geblieben bis auf den heutigen Tag. Der Bergarbeiter Mathias Roth, sein treuer Freund und Diener in den letzten Tagen, schluchzt neben seiner Leiche wie ein Kind. Die Dichter schreiben für ihn Grabgesänge, die Freunde widmen seinem Angedenken stille Bücher, in denen der Poet noch einmal aufersteht, die vielen Menschen, denen er sein Lied und Leiden schenkte, sind trost-traurig, weil er schied.

Nur einer weiss von alledem kein Wort und lebt wie früher - schön, verführerisch, voll Widerspruch: sein Liebling, sein Verderben, seine grosse Leidenschaft, der Knabe Elis."

Mehr zu Georg Trakl
  

Der Erste Weltkrieg und die zerbrochenen Münder

eos. Die NZZ publizierte am 21. Juni 2014 einen Artikel über die 2008 auf Niederländisch erschienene und jetzt ins Deutsche übersetzte Studie "Europas Dichter und der Erste Weltkrieg" von Geert Buelens. Manfred Koch, der Autor der Buchrezension, schreibt auch über Georg Trakl und stellt ihn dem russischen Dichter Alexander Blok gegenüber, der sich anfänglich einen "reinigenden Krieg" gewünscht habe, wie viele andere auch, aber rasch eines Besseren belehrt worden sei und dies nach der ersten - für die Russen siegreichen - Schlacht von Grodek so ausdrückte:

"Das Herz erhoben einst zu frohlocken,
Ist uns von Leere so verhangen."

Dann wendet sich Manfred Koch der anderen Seite zu, der österreichisch-ungarischen und damit dem Dichter Trakl. Zu dessen Gedicht "Grodek" schreibt er, es beginne, "fast romantisch, mit einer Abendstimmung, dem Lieblingsmotiv der deutschen Lyrik, um mit dem Zeilensprung die Wendung zum Grauen zu vollziehen":

"Am Abend tönen die herbstlichen Wälder
Von tödlichen Waffen, [...]"

Mit Trakls Landsmann Rainer Maria Rilke kommt ein weiterer Dichter in den Fokus, denn er habe bei Kriegsausbruch "das Aufgehen des Individuums im Kollektiv gefeiert, indem er den "gemeinsamen Mund" gepriesen habe, aus dem "auch seine Stimme erschalle". Darauf, so scheine es, habe Trakl im Gedicht "Grodek" eine der entmenschlichten Realität entsprechende Antwort gefunden:

"Sterbende Krieger, die wilde Klage
Ihrer zerbrochenen Münder."

Manfred Koch überschreibt seine Rezension mit dem Titel "Zerbrochene Münder" und charakterisiert damit gleichzeitig das Werk von Geert Buelens, eine "monumentale Gesamtschau der europäischen Lyrik im ersten Weltkrieg".

Geert Buelens: Europas Dichter und der Erste Weltkrieg. Aus dem Niederländischen von Waltraud Hüsmert. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2014.

   

Sandkörner und der Erste Weltkrieg - Eine Buchbesprechung

jb. Im Umfeld des Ersten Weltkriegs handelt auch der Roman "Das Sandkorn" des in Boston geborenen deutschen Autors Christoph Poschenrieder. Der deutsche Archäologe Jacob Tolmeyn arbeitet ab Mai 1914 für das Königlich Preussische Historische Institut in Rom. Dort erhält er den Auftrag, die Kastelle des Staufer-Kaisers Friedrich II. in Süditalien zu dokumentieren. Dabei wird er von einem Kollegen, dem etwas rätselhaften Schweizer Beat Imboden, unterstützt und zeitweise auch begleitet. Zwischen den beiden entwickelt sich eine Art platonische Freundschaft, wobei bis zum Schluss nie klar ist, ob daraus eine mehr als rationale Beziehung hätte entstehen können, wenn beide es gewagt hätten, ihren wahren Gefühlen füreinander Ausdruck zu geben.

Die historische Einbettung der Geschichte in die Anfangsphase des Ersten Weltkriegs ist zweifellos das Interessanteste an diesem Roman. Etwas konstruiert wirkt das fiktionale Konzept, das zwischen Rom, den Friedrich-Kastellen und Berlin sowie drei Zeitebenen pendelt. Wenig ausgeschöpft erscheint das psychologische und dramatische Potential der Hauptfiguren, deren Motivation und Handlungsweise schwer nachvollziehbar ist, mindestens aus der schwulen Perspektive des 21. Jahrhunderts. Tolmeyn und Imboden sind beide dem eigenen Geschlecht zugeneigt; beide mögen sich, aber sie schaffen es nicht, die Konventionen ihrer Zeit zu überwinden und ihrem Verhältnis jene Tiefe zu geben, die in den Charakteren angelegt ist und die der Geschichte den richtigen dramatischen Drive gegeben hätte. Es scheint, als ob sich der verheiratete Autor vor der letzten Konsequenz gescheut hätte. Die Sandkörner knirschen im dramaturgischen Getriebe. Schade um diese verknorzte Liebesgeschichte, die eigentlich keine ist.

Christoph Poschenrieder: Das Sandkorn. Diogenes Verlag, Zürich 2014.