Newsletter 78
Juli 2016
Dieser Newsletter enthält folgende Themen:
- Zürcher Lighthouse
- Der Textdichter Jürg Amstein
- Der Kreis digitalisiert
Vom Aids-Hospiz zum Palliativzentrum
jb. Seit dem Herbst 1991 ist das Zürcher Lighthouse für unheilbar kranke Menschen ein Ort, an dem sie ihre letzte Lebensphase in Ruhe und Geborgenheit verbringen können - ein Abschied vom Leben mit viel Würde und Autonomie. Die Idee dazu stammt ursprünglich aus den USA. Ähnliche Einrichtungen gibt es aber auch in zahlreichen anderen Ländern. Von den Gründern gegen alle politischen Bedenken und Widerstände als letzte Zufluchtsstätte für sterbende Aids-Patienten eröffnet, wurde das Konzept des Lighthouse seither mehrmals angepasst. Das Sterbehospiz entwickelte sich zu einem palliativen Kompetenzzentrum, das eng mit dem Universitätsspital Zürich zusammenarbeitet und das mit seinem niederschwelligen Palliative-Care-Angebot die weitere Zukunft gestalten möchte. Nicht zuletzt dank der traditionellen Bären-Spendenaktion zur Weihnachtszeit geniesst das Lighthouse in der Öffentlichkeit viel Sympathie und Wohlwollen. Peter Kaufmann hat den Weg, den das Zürcher Lighthouse in den letzten 25 Jahren zurückgelegt hat, nachgezeichnet.
Mehr zum Zürcher Lighthouse
Der Textdichter Jürg Amstein (1916-1988) - unvergessen
eos. Unter seinem bürgerlichen Namen Georg Schmidt wirkte er über Jahrzehnte als Primarlehrer in Zürich-Oerlikon. Sein Künstlername Jürg Amstein stand über vielen Texten der beliebten Schweizer Cabarets vom "Federal" bis zu "Voli Geiler und Walter Morath". Er schrieb erfolgreiche Hörspiele für das Radio wie auch - als Georg Schmidt - für den Schulfunk, dessen Leiter er zeitweilig war. Und er verfasste zahllose Theaterstücke, von denen einige zu Operetten vertont wurden. Seine Stücke, mit oder ohne Musik, eroberten die Bühnen des ganzen Landes. Das Singspiel "Der schwarze Hecht" wandelte sich zum Musical "Feuerwerk", dann wurde es als "Firework" verfilmt und das zentrale Lied stieg zum Welthit auf: "O mein Papa". Den Komponisten Paul Burkhard feierte man überall, der Textdichter jedoch blieb, durchaus seinem Naturell entsprechend, im Hintergrund. In diesem Jahr feiern wir seinen 100. Geburtstag.
Um es genau zu sagen, am 29. September kam er als Jüngster in seiner Familie an; die beiden Brüder waren einige Jahre älter. Vater und Mutter besassen ein Haus an der Weststrasse unweit des damals noch nicht existierenden Lochergut-Hochhauses. Der kleine Georg war der einzige, der studierte und auch dann noch bei den Eltern blieb, als die Brüder längst ausgezogen waren und er es ihnen hätte gleichtun können. Mit dem Tod des Vaters änderte sich dies erst recht nicht, denn die Mutter allein lassen war völlig undenkbar. Sie, eine geborene Amstein, hatte ihn immer verstanden und bei allem unterstützt.
1953 wurde mir (Ernst Ostertag) eine erste Stelle als Junglehrer angeboten. Ich war 23 Jahre alt und traf im selben Schulhaus in Zürich-Oerlikon den vierzehn Jahre älteren und erfahrenen Kollegen Georg Schmidt. Wir verstanden uns auf Anhieb. Allerdings, eine nette Kollegin warnte mich bald einmal: Passen Sie auf, er ist ein "Warmer"! Nun wuchs mein Vertrauen erst recht. Seine Antwort, als ich ihm davon erzählte, war typisch: Dabei fahre ich sie fast täglich zum Schulhaus - und das tat er selbstverständlich weiterhin. Er besass einen schicken Wagen, was nur ganz wenige Lehrer sich damals leisten konnten, und sie wohnte in seiner Nähe. Er war ein Mann von Welt.
Andere Kollegen berichteten mir von seiner zweiten Existenz, dem Künstler Jürg Amstein. Es war Stolz in ihren Stimmen. Einen so berühmten Kollegen hatten andere Schulhäuser nicht. Ich aber hatte im Stillen noch etwas mehr. Das Geheimnis, das Georg und mich verband. Und das sollte so bleiben. Wir duzten uns nur ausserhalb der Schule. Er beobachtete scharf und gab mir viele kluge Tipps. Auch drängte er auf eine rasche Wahl, sobald ich die zwei Jahre Junglehrer hinter mir und das offizielle Zeugnis zur Wahlfähigkeit in meinen Händen habe. Das tat ich und absolvierte das ganze Prozedere mit mehrfachen, unangemeldeten Schulbesuchen durch Wahlkommissionen aus Behördenvertretern und Fachleuten. Zwei Jahre später war ich gewählt und konnte nicht mehr einfach "ersetzt" werden.
Ein gutes halbes Jahr danach lernte ich Röbi Rapp kennen. Für Georg ein Altbekannter aus dem Schauspielhaus und der Oper. Nun lud er uns erstmals zu sich nach Hause ein, wo nach dem Tod der Mutter eine Haushälterin das Zepter führte. Bald drehte sich das Gespräch um ein Filmprojekt, das Jürg (so sollten wir ihn privat nennen) realisieren wolle. Hauptperson sei ein blendend aussehender Hetero mit Freundin, beide Schauspieler und Bekannte von ihm. Eine zweite Hauptperson, nun, die könnte von Röbi dargestellt werden, das wäre ideal. Er müsse diesen Schönling anhimmeln und ihm Liebesbriefe schreiben, was, so spann Jürg die Handlung weiter, dem Macho dermassen gefalle, dass er auf die Avancen eintrete und Röbi schliesslich einlade, mit ihm zu Segelferien ans Mittelmeer zu kommen. Das Dabeisein seiner Freundin würde er verschweigen. Höhepunkt des Dramas sollte eine Sexnacht sein, bei der jedoch Röbi gefesselt werde und unter dem Bett Zeuge des heissen Geschehens sein müsse. Dieser Soft-Porno wurde tatsächlich hergestellt, und die kleine Filmcrew hatte jede Menge Spass. Als Assistent und Röbis "Tröster" gehörte ich mit dazu. "Pfeffer und Salz", so hiess der Titel, ist verschollen. Er war nur zur privaten Unterhaltung in der Wohnstube gedacht. Typisch für eine Zeit, in der es nichts in dieser Richtung gab.
Aber er führte uns so nahe zusammen, dass wir Jürg überzeugen konnten, er sollte einen festen Freund haben statt wechselnde Kurzbekanntschaften, von denen er gelegentlich erzählte. Möglicherweise würde er diesen Kameraden im KREIS finden. Er wurde Abonnent und wenig später, im Winter 1958/1959, kam er dort ins Gespräch mit einem unserer Freunde. Es war der Italiener Carlo Piccin, der als Schneider in Zürich arbeitete. Er hatte unser Alter, sprach ein köstliches, stark italienisch gefärbtes Schweizerdeutsch und war ein stets heiterer, rundum gutmütiger Mensch. Die beiden verliebten sich und wollten schon bald zusammenwohnen. Jürg verkaufte das Elternhaus und erwarb ein Mehrfamilienhaus an der Gladbachstrasse, also am Zürichberg. Er liess es renovieren und baute die zwei obersten Wohnungen in eine grosse um. Neben der Haustüre war die eine dieser Wohnungen mit Jürg Amstein und Carlo Piccin angeschrieben, während bei der anderen Georg Schmidt stand. Das gewährte etwas Schutz für den Lehrer. Bis zu seinem frühen Tod 1988 blieben Carlo und Jürg ein Paar und genossen ihre Zeit auch im gemeinsamen Ferienhaus in Weggis am Vierwaldstättersee. Gelegentlich waren wir dort zu Gast.
Einmal, noch ganz in der Anfangszeit unserer Freundschaft, kam Jürg mit dem Projekt für eine Schulfunksendung zu mir. Es ging um ein Dialekthörspiel mit dem Titel "Viktor, der Goldhamster". Er legte die bereits bestehende deutsche Fassung auf den Tisch, ich solle sie durchlesen und bitte in Zürcher-Dialekt übertragen. Danach setzten wir uns zusammen, und es begann die eigentliche Hauptarbeit, die Umsetzung in funktionierende Szenen. Dialekt verlangte eine ganz andere Dramatik. Das war mir neu. Was nun startete, waren die intensivsten Stunden, die ich je erlebt hatte, sowohl in deutscher Sprache wie in Mundart. Immer wieder staunte ich über Jürgs Sicherheit und sein untrügliches Talent für wirkungsvolle Szenen. Die Erstausstrahlung war 1959. Sie wurde oft wiederholt und fand sich schliesslich als Tonband in Schulhäusern des ganzen Kantons und darüber hinaus. Erstmals erfuhr ich, was Tantiemen sind: Geld aus heiterem Himmel, nicht viel, aber immerhin. Es reichte für eine "Hermes Baby", eine kleine transportable Schreibmaschine, die mir bis zur Pensionierung täglich dienstbar blieb.
Noch früher erzählte mir Jürg von Artur Beul (1915-2010), den er zusammen mit Paul Burkhard (1911-1977) als seine besonders nahen, natürlich auch "zu uns" gehörenden Freunde bezeichnete, beide aber ohne "es" zugeben zu wollen. Eben hatten Jürg und Artur Beul, den er Turi nannte, die Operette "Nach em Räge schint d’Sunne" herausgebracht (1954). Die Lieder stammten von Beul, eingebettet in eine Gesamthandlung von Amstein. Heute würde man so etwas Musical nennen. Jürg berichtete, er habe die Grundidee bereits einmal für ein Hörspiel verwendet, "De Güggelirank". Da treibe eine Bäuerin mit Hof an einer engen Strassenkurve ihre Hühner mit Hilfe einer alten Autohupe zu "freiem Auslauf" Richtung Strasse. Natürlich flattere das eine oder andere zufälligerweise unter die Räder eines sportlichen Fahrers, und die schlaue Bäuerin, sofort zur Stelle, lasse sich den Verlust zu gutem Preis entschädigen. Das führte natürlich zu vielen abstrusen Komplikationen. Die Operette, garniert mit viel Volk, vielen Extras und noch mehr von Arturs Ohrwürmern, war landauf, landab (mit Betonung auf Land) höchst erfolgreich. Dann legte sie sich über dreissig Jahre lang schlafen, bis uns Jürg eines Tages im Frühling 1987 telefonierte und meldete, er sei mit Turi zusammen am Überarbeiten und Erneuern des alten Schwankes, der jetzt ein "Ländlermusical" werde. Die Freilichtaufführung im August fand vor der Ruine der Burg Regensdorf beim Zürcher Katzensee statt. Sie war ein Erfolg; es kamen viel mehr Besucher als gedacht, und Jürg war hoch erfreut. Das war nur ein Jahr vor seinem plötzlichen Tod.
Die gemeinsame Wohnung von Jürg und Carlo Piccin spielte 1967 eine ganz besondere Rolle. An der Gladbachstrasse 100 trafen sich die Mitglieder der Aktivgruppe, die nach dem Ende des KREIS eine neue Organisation mit neuer Zeitschrift ins Leben rufen wollten. Auch die Gründungssitzung vom 10. Dezember fand dort statt, während Carlo für uns kochte. Die meisten der vorausgegangenen Zusammenkünfte hatten länger gedauert, und immer war Carlo da mit feinen Häppchen und Getränken aller Art. Er war ein ausgezeichneter Koch und Haushälter. Ende Dezember lag das neue Blatt club68 druckfertig vor, es folgte, wie den Abonnenten verspochen, nahtlos auf die letzte Ausgabe des Kreis. Viel an dieser Präzision war Jürg zu verdanken.
Natürlich gehörte er mit zur Aktivgruppe. In den kommenden Jahren schrieb er als "Jürg Ambach" zahlreiche Texte für club68 und ab 1972 fürs hey, die Zeitschrift der SOH (Schweizerische Organisation der Homophilen), wie die Nachfolgeorganisation des KREIS ab 1971 hiess. Zu diesen Texten gehörten vor allem die vielbeachteten Serien "Berühmte Homosexuelle", aus denen Jürg ein Buch machen wollte.
Mit dem plötzlichen Herzversagen am 23. März 1988 war alles gestoppt. Für seine Freunde, ganz besonders aber für Carlo war die Tatsache, dass es Jürg nicht mehr gab, ein gewaltiger Schock. Da lagen noch so viele Pläne als Skizzen vor. Bereits fast Fertiges war auch dabei. Immer wieder äusserte Jürg den Wunsch, noch einmal etwas "zu machen", das dem "Feuerwerk" gleichkomme. Im Nekrolog "Erinnerung an Jürg Amstein", erschienen im SOH-Info vom August 1988, S. 11/12, schrieb ich als Stefan E. Pasquo u.a.:
"In den letzten Jahren seines Lebens träumte er von einem nochmaligen, ähnlichen Erfolg [wie das Musical "Feuerwerk"]. Er entwarf den Text eines Musicals mit dem Namen "Caramba", und als er nach langem Suchen einen Komponisten fand, schrieb er das Ganze neu, so dass es jetzt aufführungsreif fertig ist. Zugleich arbeitete er, mit langen Intervallen allerdings, an einer Ausgestaltung und Neufassung seiner damaligen Serie von "Berühmten Homosexuellen", aus der nun ein Buch werden sollte. Ein erster Band liegt druckfertig vor, das übrige bleibt Fragment, und die Frage nach einem Verleger steht offen."
Ein kleines Werk aber machte er fertig und sandte uns im Januar 1988 fünf Exemplare davon. Es sollte sein letztes Oeuvre sein, und es war typisch für ihn: Darin offenbarte sich sein Faible für Pornografie, für die französische Sprache und für ein schalkhaftes Provozieren, das eben auch zu seinem Wesen gehörte. "Jubiläums Privatdruck, nirgends zu kaufen!" konnte man auf der Rückseite des Werkleins lesen. Es handelte sich um die deutsche Übertragung von 17 homoerotischen Gedichten von Paul Verlaine und zwei von Arthur Rimbaud, erschienen um 1890 unter dem Titel "Hombres". Natürlich setzte Jürg stets das französische Original hinzu. Als Autor nannte er es "Deutsche Nachdichtung von Jürg Hecht". Hier eine ganz kleine Kostprobe, die erste Strophe von "O mes amants - O meine Freunde":
O meine Freunde!
Rassige Rangen!
So treuherzig wixt ihr! so unbefangen!
Tröstet mich! Helft meinen Ärger vertreiben!
Lasst ausruhen mich vom Verseschreiben!
Du, Schelm aus der Vorstadt! Galgenschwengel!
Ihr Flegel vom Lande! Ihr Lausebengel!
Schwänze im Hintern, liefern wir,
im Dickicht bewaldeter Flüsse,
die grosse Schlacht
irrer Küsse!
Für die Schweizer Musiker-Revue vom Mai 1988 schrieb Artur Beul einen Nachruf. Er ist auf der Website "Jürg Amstein" zu finden ("Jürg Amstein - Nekrolog für einen Freund und stillen Künstler"). Darin berichtet Beul von einem letzten Telefongespräch mit Jürg, drei Wochen vor dessen Tod. Er habe gesagt:
"Weisst, es ist nicht schön alt zu werden [er war erst 72], wenn man noch so viel Ideen und Pläne im Kopf hat, sie aber kaum mehr verwirklichen kann, weil einem die Kraft fehlt. Ich bin stets müde, obwohl ich mich immer am Nachmittag drei Stunden schlafen lege. Es wird sicher nicht mehr so lange dauern..."
Und am Ende schreibt Artur Beul, dass Jürg ausdrücklich darauf bestanden habe, man solle in der Todesanzeige nur den Namen Georg Schmidt nennen. Jürgs Begründung:
"Der Georg Schmidt stirbt und kehrt zur Erde zurück. Hingegen hoffe ich, dass der Jürg Amstein noch auf der Welt weiterleben möge, in seinen vielen schriftstellerischen Arbeiten, seinen lustigen und nachdenklichen Texten, in die ich meine ganze Seele hineinschrieb."
P.S. Auf der angegebenen Website mit dem Nachruf von Artur Beul ist jetzt auch folgende Anzeige zu finden: "Im Oktober 2016 führt das Nostalgietheater Balgach [im Rheintal zwischen St. Margrethen und Altstätten] wieder ein volkstümliches Musical auf: Nach em Räge schint d’Sunne von Jürg Amstein mit der Musik von Artur Beul."
Mehr zum Textdichter Jürg Amstein
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