Newsletter 90

Juli 2017

Dieser Newsletter enthält folgendes Thema:

    • Bertie Wolf: Variété-Künstler, Couturier, Liebhaber

      

    Zum 100. Geburtstag von Bertie Wolf

    eos. Kaum war er aus dem Schutzalter heraus, trat der aus seiner Familie in den Niederlanden Verstossene ab 1937 auf der Bühne des KREIS in Zürich auf und wurde zum internen Star. Das blieb er gute 17 Jahre lang. In dieser Zeit liess er sich in Paris zum Varieté-Künstler ausbilden, studierte in Zürich Architektur und Kunstwissenschaft, versöhnte sich wieder mit seiner Familie und fand in Emil Oprecht, dem Zürcher Verleger, Buchhändler und Verwaltungsratspräsident des Schauspielhauses, seinen Liebhaber und Freund. Bertie Wolf (1917-2000) war ein Multitalent. Er arbeitete auch als Couturier.

    Zum KREIS-Herbstfest 1954 holte Karl Meier / Rolf zwei für die Bühne aufbereitete Szenen aus seinem Fundus. Er hatte sie den satirischen "Göttergesprächen" des antiken Schriftstellers Lukian (zweites Jahrhundert nach Christus) entnommen, und nun wollte er erneut sein Publikum damit erfreuen. Bereits zehn Jahre zuvor hatten die beiden Szenen Begeisterung geweckt, sowohl die erste, "Ganymed", wie vor allem die zweite, "Ein Wortwechsel zwischen Zeus und seiner Gattin Hera". Auch diesmal gab es grossen Applaus. Wiederum spielte er, Karl Meier, den Göttervater Zeus höchstselbst, während Bertie Wolf die eifersüchtige Hera wie schon damals als hysterische Drama-Queen parodierte. Es war Berties letzter Auftritt in einem Theaterstück; von nun an erschien er gelegentlich noch als Travestie-Star. Neu war jetzt die Rolle des Ganymed mit dem 24jährigen Röbi Rapp besetzt, der erstmals zusammen mit Bertie auf der Bühne stand. Es ergab sich eine Freundschaft bis zum Ende der grossen KREIS-Feste (1960). Dann verloren sich ihre Kontakte.

    Vierzig Jahre später jedoch trafen sie sich wieder. Das war im Theater Keller62, als Röbi mit mir (Ernst) ein KREIS-Nostalgie Programm zum ersten Warmen Mai (im Jahr 2000) realisierte. Bertie war einer der geladenen Gäste. Wir unterhielten uns nach der Aufführung angeregt und vereinbarten einen baldigen Nachmittagstreff in unserer Wohnung. Bei dieser Gelegenheit kam er so richtig in Fahrt und erzählte viele Details aus seinem bewegten Leben. Er stand kurz vor Aufbruch zu einer Weltreise und wollte uns sofort nach der Rückkehr wieder kontaktieren. Stattdessen erhielten wir Monate später den Anruf eines Unbekannten, der berichtete, Bertie sei unheilbar an Krebs erkrankt, habe die Reise abbrechen müssen, um via Zürich zu seiner Schwester in die Niederlande zu fahren; dort wolle er sterben. Nur Wochen danach rief uns derselbe Mann an und teilte mit, Bertie sei am 10. November 2000 gestorben.

    Die beiden Gespräche, vor allem das zweite, blieben uns unvergesslich. Im KREIS war Privates wie Geschäftliches stets tabu. Nun erfuhren wir Berties spannende Geschichte. Dazu schenkte er Röbi sein persönliches Fotoalbum und andere Dinge, die wir inzwischen im Schwulenarchiv deponiert haben. Als spezielle Gabe legte er das Original-Manuskript des Chansons "Die Seltsame" in Röbis Hände. Es sei 1937 für ihn verfasst und komponiert worden, und nur einmal habe er es im KREIS vorgetragen. "Bitte, lass es wieder lebendig werden", war sein Wunsch, ja fast schon Befehl. Röbi fügte das Chanson seinem Programm hinzu, und so wurde die "Seltsame" auch zum tragenden Lied im Film "DER KREIS", wo er es zu Beginn und am Ende singt und weiter über den ganzen Abspann hinweg, während Sven Schelker, der den jungen Röbi spielt, es in der Bar-Szene in roter Robe auf einem Stuhl stehend dem Publikum und seinem Freund Ernst darbringt. Im Warmen Mai 2017 ist das Chanson - zum Chorgesang umgeschrieben - erstmals vom "LGBT Rosa Chor" im Theater Keller62 aufgeführt worden, in Erinnerung an Bertie Wolf. Es lebt also noch immer.

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