1917-2000

Bertie Wolf

Ein Ausstellungstext aus dem Jahre 2002 nannte die Dinge beim Namen:

"Der Verleger Emil Oprecht4 ist verheiratet und lebt zugleich in Beziehung mit seinem Freund Bertie Wolf. Emmie Oprecht und Bertie Wolf kennen einander und stehen auch lange nach dem Tod von Emil Oprecht miteinander in Verbindung. Bertie Wolf ist Architekt und Travestiekünsler, er ist Abonnent des Kreis und tritt dort auch an den Festen auf."1

Albert Bernhard Wolf, genannt Bertie (1917-2000) war feminin, aber keine Tunte, stets perfekt gekleidet, meist mit einem aprikosenfarbenen Kleinpudel unterwegs, eine schlanke, elegante Erscheinung, die zugleich Distanz signalisierte.

Im Gespräch war er liebenswürdig, humorvoll und schlagfertig, ein brillanter Erzähler mit umfassender Bildung. Er war, wie er gelegentlich betonte, ein Enfant terrible für seine wohlhabende und einflussreiche jüdische Unternehmerfamilie in Eindhoven (Niederlande).

Bertie war ein hochbegabter Junge, der nicht nur schulisch aus dem Rahmen fiel. Er verfügte über ein geschliffenes Mundwerk, besonders dann, wenn er sich angegriffen fühlte. Er war auch sonst frühreif und merkte bald, dass wesentlich ältere Herren seine erotischen Gefühle weckten:

"Mit 15 verliebte ich mich in einen wesentlich älteren Mann und zeigte es offen."2

Zwei Jahre später traf er am Strand von Scheveningen einen älteren Herrn. Diese Begegnung führte zu einer richtigen Beziehung. Nach einigen Monaten konfrontierte er damit seine Eltern. Die reagierten schnell. Sie versetzten ihn ins Ausland.

Am 5. August 1935 vermerkte die Einwohnerkontrolle der Stadt Zürich seine Anmeldung. Er war 18 und immatrikulierte sich im Oktober an der ETH als Student der Architektur. Dies beruhigte die Eltern. Drei Jahre später versöhnten sie sich zu Hause feierlich mit dem werdenden Architekten.

Allerdings verliess er die ETH im März 1941 ohne Diplom, um sich im selben Jahr an der Zürcher Universität für ein Studium in Kunstwissenschaft einzuschreiben. Dass er ab 1937 bereits im KREIS regelmässig als Transvestit mit Chansons und Tanzeinlagen auftrat und 1938/1939 in Paris einen Ausbildungskurs zum Varieté-Tänzer absolvierte, davon wusste niemand in Eindhoven. Anfang 1940 kehrte er in die Schweiz zurück.

Mit etwas über 20 traf er in Zürich den Verleger Emil Oprecht (1895-1952), der mit Emmie Oprecht-Fehlmann (1899-1990) verheiratet war. "Die wesentlichste Begegnung meines Lebens", erklärte er immer wieder. Emil Oprecht lebte eine Kameradschafts-Ehe mit seiner Frau Emmie Oprecht-Fehlmann. Das war damals vor allem in Nazi-Deutschland üblich unter Homosexuellen, die sich so tarnen konnten. War der Mann Ausländer, verschaffte eine Ehe auch Fluchtmöglichkeiten für die Frau. Beim hohen Ansehen des Buchhändler- und Verleger-Paares Oprecht mochte die Tarnung hilfreich sein. Emil und Emmie waren ein perfektes Team und setzten sich an vorderster Front für Meinungs- und Pressefreiheit ein. Jene Bücher, die im Hitler-Reich verboten und zum Teil öffentlich verbrannt wurden, gaben sie neu heraus. Auch führten sie eine grosse Wohnung, die Emigranten weit offen stand. Daher wurden sie von den Nazis gehasst und diffamiert. Mit der Gründung der Neuen Schauspiel AG 1938 wurde Emil Oprecht Präsident des Verwaltungsrats und das Schauspielhaus Arbeitsplatz vieler der verfolgten Künstler auch aus dem einige Monate zuvor von Hitler-Deutschland annektierten Österreich. Bertie fügte sich still ins Leben seines Freundes und dessen Frau ein. Lange hielt er sich von ihren öffentlichen Verpflichtungen fern. Schliesslich wurde seine Anwesenheit dennoch bemerkt. Man hielt ihn für den Sohn; und diesen spielte er perfekt.

Im Dezember 1944 reiste Bertie über Genf nach Frankreich, wo er sich zum Fronteinsatz meldete, denn "ich musste mich einfach aktiv an der Befreiung meiner Heimat beteiligen"2. Seinen Dienst in einem Sanitätscorps leistend, geriet er in die letzte grössere Operation der Deutschen, die Ardennenoffensive. Schwer erkrankt, völlig abgemagert und entkräftet kam er schliesslich durch Vermittlung Oprechts im März 1945 in die Schweiz zurück. Im Januar hatte das Kreis-Heft 1/1945 auf der ersten Umschlag-Innenseite auf Deutsch und Französisch noch seine Verabschiedung publiziert:

"Liebe Kameraden! Meine gequälte Heimat ruft mich; ich darf in einer solchen Stunde nicht Nein sagen. So muss ich den mir lieb gewordenen KREIS unerwartet rasch verlassen und ich kann nur noch auf diesem Wege allen herzlich die Hand drücken. Ich habe in vielen Stunden in Eurer Mitte froh sein und manches Schwere vergessen dürfen, dafür danke ich Euch. Denkt manchmal an mich, so wie ich euch nie vergesse. Bertie."

Bertie berichtete uns (Ernst Ostertag und Röbi Rapp) im Mai 2000: Die intime und betont private Beziehung zu Emil Oprecht sei durch diesen Kriegseinsatz wesentlich vertieft worden. Zum beruflichen und gesellschaftlichen Leben der Oprechts habe er anfänglich Distanz gehalten. Es sei aber bald eine Freundschaft mit der Kabarettistin Voli Geiler entstanden, ebenso mit den Schauspielerinnen Therese Giehse und Maria Becker. Über die Oprechts lernte er später auch Katia und Thomas Mann kennen3.

Am 9. Oktober 1952 erlag Emil Oprecht einem Krebsleiden. Das war "eine grausame Zäsur" in Berties Leben. Die Freundschaft zu Emmie jedoch blieb und gab wohl beiden Halt und Zuversicht. Sie führte das Geschäft weiter; er stieg bei einem Innenarchitekten ein und betrieb daneben ein Couturier-Atelier. Emmie war er bis zu ihrem Tod eine Art Sohn und nah Vertrauter. Bertie selbst starb am 10. November 2000 an Krebs.

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Ernst Ostertag, Oktober 2004 / Juni 2017

Quellenverweise
1

unverschämt - Lesben und Schwule gestern und heute, Zürich 2002, Ausstellungstext.

2

Treffen mit Bertie Wolf in der Wohnung von Röbi Rapp und Ernst Ostertag im Mai 2000, laut Notizen von Ernst Ostertag.

3

Frischknecht, Beat, Der Racismus - ein Phantom als Weltgefahr, Der Fund eines verschollenen Typoskripts als Auslöser umfangreicher Recherchen, in Mitteilungen der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft Nr. 43/44; November 2009, ab S.21.

Anmerkungen
4

Ab 1938 war Oprecht der erste Verwaltungsratspräsident der Neuen Schauspiel AG